Sonett 105 ist thematisch mit 106 verwandt. Der folgende Beitrag besteht im Wesentlichen aus dem hier relevanten Abschnitt der Analyse in Helen Vendlers The Art of Shakespeare's Sonnets.
Let not my love be called
idolatry,
Nor my beloved as an idol show,
Since all alike my songs and praises be
To one, of one, still such, and ever so.
Kind is my love to-day, to-morrow kind,
Still constant in a wondrous excellence,
Therefore my verse to constancy confined,
One thing expressing, leaves out difference.
Fair, kind, and true, is all my argument,
Fair, kind, and true, varying to other words,
And in this change is my invention spent,
Three themes in one, which wondrous scope affords.
Fair, kind, and true, have often lived alone.
Which three till now, never kept seat in one.
Übersetzung von Gottlob Regis hier.
<< Das beschließende Reimpaar - fair, kind, true, one (alone, wondrous), three - fasst das Argument über Einheit und Dreieinigkeit zusammen, das im Gedicht entfaltet und festgeschrieben wird. Weil das Sonett keine einzige Metapher enthält, haben verschiedene Kritiker (u. a. Weiner, Vickers und Kerrigan), die eine sichtbar bildhafte einer geistreichen Poetik vorziehen, es als „eintönig" und „tautologisch" bezeichnet. Von den frühen Herusgebern hat lediglich Wyndham (1898) die platonischen Implikationen bemerkt.
Der Dichter weist hier einen voraufgegangenen Vorwurf eines mutmaßlichen [Hervorhebung von mir] christlichen Betrachters zurück: „Deine Liebe erscheint mir als Götzendienst, eine Religion, die eine andere, konkurrierende Gottheit verehrt." Dass der Dichter hier eine Anklage zurückweist, tritt erst zutage, wenn wir gemerkt haben, dass der Ankläger ein Christ ist, der einen einzigen Gott in dreifacher Gestalt verehrt und der in der Kirche die Doxologie rezitiert, „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen." Der Dichter antwortet seinem Ankläger: „Nein, meine Religion unterscheidet sich nicht wesentlich von der deinigen. Meine Lieder sind an ein göttliches Wesen gerichtet, das, genau wie Dein göttliches Wesen immer sich selber gleich ist; und das Objekt meiner Verehrung ist ebenso dreieinig (fair/schön, kind/lieb, true/wahr) wie Deine Dreieinigkeit; tatsächlich ist meine Dreieinigkeitsdoktrin (drei Eigenschaften zum erstenmal in einer Person vereint) Deiner Doktrin, in der drei Personen einem Gott innewohnen, sehr ähnlich.
Diese witzige Zurückweisung - „Das Objekt, die Struktur und die rituellen Worte meiner Religion sind von der deinigen nicht unterscheidbar, weshalb Du meine nicht als 'Abgötterei' bezeichnen kannst" - hängt in erster Linie davon ab, ob der Leser gewahr wird, dass der Sprecher hier eine einfallsreiche Verwandlung der christlichen trinitären Theologie und Doxologie vornimmt. Aber zu dieser blitzgescheiten Wendung gesellen sich weitere, vor allem von der Gleichsetzung der Eigenschaften des Geliebten (schön, lieb, wahr) mit der platonischen Triade (das Schöne, das Gute, das Wahre), wodurch der Dichter der christlichen Dreieinigkeit seines Anklägers ein gleich mächtiges, aber klassisches, kulturelles Totem als Emblem des Göttlichen entgegensetzt. Die frühere Verchristlichung der platonischen Triade hatte den Gegensatz zwischen klassischen und christlichen Werten etwas heruntergespielt, aber Shakespeare stellt die Antithese radikal wieder her...
Während das Gute der höchste Wert des Christentums ist, entscheidet sich Shakespeare, in der Formulierung der platonischen Triade das Schöne als höchsten Wert zu setzen... Shakespeare setzt somit einen deutlichen kulturellen Gegensatz zwischen der (christlichen) Priorität des Guten und der (ästhetischen) Priorität des Schönen... und kehrt die Spannung zwischen den beiden kulturellen Systemen hervor, eine Spannung, die im christlichen Neoplatonismus oft verschleiert wird.>>
Shakespeare bekennt sich hier im Grunde zu einer Religion des Ästhetischen und berührt damit auch die Spannung zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen, über die Søren Kierkegaard, der ein glühender Verehrer Shakespeares war, sich soviel Gedanken gemacht hat, weshalb es verwunderlich wäre, wenn der dänische Denker uns zu Shakespeare nichts zu sagen hätte.
Aber ein deutliches Bekenntnis des Dichters haben wir hier vor uns. „Kannitverstan", sagt Shapiro, „dass man in den Sonetten nach Bekenntnissen sucht." Er hat gut reden, aber schlecht sprechen.
Wenn wir Vendlers Prämisse, irgendein christlicher Kritiker habe Shakespeare Heidentum vorgeworfen und Shakespeare habe darauf witzig mit der These reagiert, seine heidnische Religion sei gleicher Art wie die christliche, akzeptieren, dann hat Shakespeare hier aus aktuellem Anlass geantwortet. Auch das ist Shapiro zufolge verboten... außer bei der Instandsetzung von Landstraßen.
Was könnte dieser aktuelle Anlass gewsen sein? Wer könnte der christliche Kritiker gewesen sein? Es scheint müßig, nach dieser Nadel im Heuhaufen zu suchen.
Es gibt aber einen plausiblen Kandidaten.
© Robert Detobel 2010