Shapiro-Tagebuch (38 Teil 6) Shapiros Kapitel I „Shakespeare" Zum Umfeld der Sonette - (Robert Southwell)

Der Kandidat für den christlichen Kritiker in Sonett 105 ist Robert Southwell, Jesuit und heiliggesprochener katholischer Märtyrer. Southwell wurde 1561 in der ostenglischen Grafschaft Norfolk als Sohn eines katholischen Landadligen geboren. Bereits mit 15 Jahren verließ er England, um am katholischen Kolleg in Douai (Nordfrankreich, damals Teil der spanischen Niederlande) zu studieren. 1580 trat er in Rom in den Jesuitenorden ein. 1586 kehrte er auf eigenen Wunsch gemeinsam mit Henry Garnet (der 1606 nach dem Gunpowder Plot hingerichtet wurde) nach England zurück, um die von Edmund Campion (1581 hingerichtet) begonnene Jesuitenmission fortzusetzen, eine lebensgefährliche Aufgabe, denn 1584 war ein Gesetz erlassen worden, das jedem in England geborenen katholischen Geistlichen verbot, auf englischen Boden zurückzukehren.

Die Jesuitenmission konzentrierte sich auf den Adel. „Jesuiten und Seminaristen wurden hauptsächlich aus den Reihen der Akademiker und des Landadels rekrutiert. Es kann dann auch nicht verwundern, dass sie oft bei Leuten mit dem gleichen sozialen Status wohnten und mit ihnen arbeiteten. Die Konzentration auf die Haushalte des Landadels war jedoch eine gezielte Strategie und kein Zufall. Die Jesuiten waren angewiesen worden, sich 'eher an die oberen denn an die unteren Gesellschaftsschichten' zu richten, damit eine katholische Führungsschicht vorhanden sei, sollte der alte Glaube wieder obsiegen, während die katholische „gentry" ihre katholischen Diener schützen konnten." (Christopher Haig, English Reformations, Oxford 1993, S. 264). Aber auch Mitglieder des katholischen Hochadels bildeten wichtige Anlaufstellen. So war Southwell nach seiner Landung in England zunächst bei Lord Vaux of Harrowden, später im Haus Philip Howards, des Grafen von Arundel (der nach seiner Konversion zum Katholizismus seit 1585 selber im Tower eingesperrt war) untergebracht.

Ein anderer kausaler Faktor, der regelmäßig unterbewertet wird, ist zur Erklärung der Strategie der Jesuitenmission noch zu berücksichtigen: der Stellenwert des Adels als Vorbild für das richtige gesellschaftliche Verhalten. Southwell selbst deutet es indirekt in der Widmung seines Werks Triumphs over Death hin.

„Hochrangige Personen, deren Vermögen die Augen vieler auf sich zieht, so dass sie nicht nur nach eigenem Gutdünken leben können, dürfen sich nicht die Freiheiten der niedrigeren Schichten erlauben; die Gesetze des Adels gestatten es nicht, ihr Tun von ihren Wünschen lenken zu lassen, sondern fordern, ihre Wünsche in den Rahmen des Schicklichen einzugrenzen."

1592 wurde Robert Southwell vom Katholikenjäger Richard Topcliffe, einem grausamen Folterknecht und einem Schandmal in der Geschichte des elisabethanischen England, verhaftet und einige Tage lang aufs schwerste gefoltert, danach in ein anderes Gefängnis verlegt und alsbald in den Tower eingewiesen, bis er am 21. Januar 1595 hingerichtet wurde.

Im Tower hat er wohl den größten Teil seiner Lyrik geschrieben. Denn nach seiner Verhaftung sah Southwell seine Mission auf das eingeschränkt, was vorher nur ein Teilaspekt von ihr war: den Adel wider die herrschende Mode der Liebeslyrik durch fromme Gedichte für den Katholizismus zurückzugewinnen. Er beklagte, dass die Dichter ihre Vorbilder und Themen der säkularen und gar heidnischen Lyrik und nicht der Religion und der Bibel entlehnten. Sowohl in der Widmung als im Brief an den Leser zu Mary Magdalen's Funeral Tears (1591 erschienen) beschreibt er diese Strategie:

„Denn da heute die Leidenschaft, vor allem die der Liebe, der Hauptgebieter über das Tun der Menschen ist, das Idol [Hervorhebung von mir], dem Zungen wie Federn ihre fehlgeleiteten Arbeiten opfern, besteht heute keine dringendere Aufgabe, als diese Stimmungen in die geziemende Richtung zu lenken und diese Gefühlsfluten in die richtigen Kanäle zu leiten."

Diese begabten Dichter sollen ihr Talent zur Ehre Jesu und der christlichen Religion verwenden. Er selbst wollte ein Beispiel setzen. Er werde, schreibt er in derselben Widmung, seine Anstrengungen gut entlohnt erachten, wenn es ihm gelänge, einige begabtere Dichter als ihn selbst zu bewegen, sich von unwürdigen Arbeiten abzuwenden, denn „die besten Geister" („the finest wits") gäben sich leidenschaftlicher Rede hin.

Das war 1591. Dachte Southwell hier bereits an Shakespeare? Oder erst nach 1593? In The Cambridge History of English and American Literature (Vol. IV, 1909) schreibt Harold H. Child:

"Es kann nicht daran gezweifelt werden, dass Southwell Shakespeares Venus und Adonis gelesen hatte, das 1593 veröffentlicht wurde und sogleich das beliebteste Gedicht der Zeit wurde. Er scheint es als das Paradigma jener Poetik betrachtet zu haben, die er zu ersetzen wünschte. Sein Saint Peters Complaint, das 1595 kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde, ist im gleichen Metrum [Anmerkung von mir: und in den gleichen sechszeiligen Strophen] wie Shakespeares Gedicht verfasst; zudem enthält das Vorwort des Verfassers an den Leser eine Zeile, 'Still finest wits are stilling Venus' rose', die vielleicht einen direkten Verweis darstellt und auf jeden Fall von Southwells Lesern als ein solcher verstanden worden wäre. Und wenn Southwell Shakespeare gelesen hat, so wird aus einer Reihe interessanter Korrespondenzen in ihren Werken klar, dass Shakespeare Southwell gelesen hatte."

Es wird alles noch aufregender, wenn wir nicht nur den Brief an den Leser vor Saint Peters Complaint, sondern auch die Widmung „To my loving Cousin" hinzuziehen, zumal in einer späteren, kleinformatigeren Ausgabe die Anrede der Widmung lautet „To my Worthy Good Cousin Master W. S.". Dies schreibt Southwell:

„Dichter, die ihr Talent missbrauchen und die Unvernunft und Täuschungen der Liebe zum Hauptthema ihrer niedrigen Bestrebungen machen, haben die Dichtkunst dermaßen diskreditiert, dass Dichter, Liebender und Lügner von vielen als synonym betrachtet werden. Aber die Eitelkeit der Menschen kann Gottes Autorität nicht aufwiegen, die, da er viele Teile der Heiligen Schrift in Versen überliefert und uns durch seinen Apostel aufgefordert hat, unsere Andacht in Hymnen und religiösen Sonetten auszudrücken, diese Kunst als gut und deren Gebrauch als statthaft absegnet. Und deshalb wurde sie nicht nur von den Heiden benutzt, bei denen die Götter hauptsächlich in Versen von Dichtern verehrt und auch die Orakelsprüche in Versform verkündet wurden, sondern auch im Alten und Neuen Testament von tieffrommen Männern für ernsteste Andacht...

Aber der Teufel, der danach strebt, selber Gott zu sein und jeden Ausdruck göttlicher Ehrerbietung in seinen Dienst zu zwingen, hat nebst anderen auch die Dichter mit seinen nutzlosen Phantasien betört. Denn statt feierliche und fromme Themen zu wählen, wie es ihre Fähigkeiten verlangen würden, sind sie heute damit beschäftigt, solche Leidenschaften auszudrücken, die lediglich bezeugen, mit welchen unwürdigen Gefühlen sie ihren Willen verkuppeln. Und weil der beste Weg, sie zur Einsicht in ihren Irrtum ihres Wirkens zu bringen, darin besteht, auf ihrem eigenen Webstuhl ein neues Gewebe zu weben, habe ich hier einige rohe Fäden zusammengelegt, um begabtere Geister einzuladen, in dieser Richtung weiterzumachen oder etwas Kunstvolleres zu schreiben, aus dem ersichtlich wird, wie gut Vers zu Wert passt.

Tadele mich nicht, guter Cousin, obwohl ich Dir ein tadelnswürdiges Geschenk schicke, in dem das Empfehlenswerteste der gute Geist des Verfassers ist; weder Kunst noch Einfallsreichtum sprechen für es. Wenn ich damit einen Fehler begehe, kannst Du selbst doch nicht fehlerlos sein, der Du mich veranlasstest, ihn zu begehen; weshalb Du einen Teil der Strafe auf Dich zu nehmen hast, wenn harsche Zensoren sie verhängen sollten. Ich schicke Dir diese wenigen Liedchen, vertone Du sie und lasse, so bitte ich Dich, die Mitte [Hervorhebung von mir] weiterhin einen Teil Deiner Musik sein."

Der Brief an den Leser ist in Versen geschrieben. Auch hier bedauert Southwell das Fehlen religiöser Poesie:

            Christ's thorn is sharp, no head His garland wears.
            Still finest wits are "stilling Venus'" rose
            In Paynim toys the sweetest veins are spent.
            To Christian works few have their talents lent.

            Christus' Dorn war scharf, kein Haupt trägt Seinen Kranz,
            Noch kosen feinste Geister Venus' Rose
            Heidnisch'r Kram in schönstem Lied gedeiht
            Wenig Talent wird Christenwerk geweiht.

Kann Southwell Venus und Adonis in der Zeit zwischen 1593 und dem Zeitpunkt seiner Hinrichtung im Januar 1595 gelesen haben? Mario Praz (und E. K. Chambers ist ihm darin gefolgt) hat das verneint. Zwar habe Southwell nach seiner Verlegung in den Tower die Erlaubnis erhalten, Bücher zu lesen, er habe sich jedoch nur die Bibel und die Werke des Heiligen Bernhard gewünscht („Robert Southwell's 'Saint Peter's Complaint' and iits Italian Source", Modern Language Review, Vo. XIX, 1924). Das Argument ist nicht sonderlich überzeugend. Dass er, Southwell, nur die Bibel und die Werke des Heiligen Bernhard nannte, bedeutet nicht, dass er keine anderen Werke erhalten hätte, zumal er es ja als eine Teilstrategie seiner Mission betrachtete, die Lyrik vom Liebesthema auf religiöse Themen zu lenken. Und nur diese Teilstrategie war ihm im Gefängnis verblieben: „auf ihrem eigenen Webstuhl ein neues Gewebe zu weben", d. h. die Thematik existierender Gedichte ins Religiöse zu wenden - und das hat er getan! Einige Beispiel werden im nächsten Beitrag untersucht. Außerdem vermag niemand zu sagen, ob Venus und Adonis wie soviele andere poetisches Werke, u. a. Sir Philip Sidneys Arcadia und Shakespeares Sonette, nicht vorher schon eine Weile im Manuskript zirkuliert hatten.

Dem Wort „Cousin" muss kein besonderes Gewicht beigemessen werden. Der Ausdruck wurde innerhalb der Aristokratie in breitestem Sinne verwendet. So nannte König Heinrich IV. von Frankreich den Grafen von Essex seinen „Cousin", obwohl nicht die geringsten Blutverwandtschafsbande zwischen beiden bestanden. Es liegt vielleicht die stammesgeschichtliche Angewohnheit vor, enge Bande zu Blutbanden zu veredeln.

Auf jeden Fall bleibt offen, ob Southwell mit „Master W. S." Shakespeare gemeint hat. Hat er es, dann muss man wohl Sonett 105 als Shakespeares Antwort auf Southwells dogmatische Setzung betrachten.

© Robert Detobel 2010