Southwell, Edward de Vere, Shakespeare: eine Schnittstelle (1)

Southwell hat sich „des Webstuhls" mindestens zweier englischer Dichter, zweier Hofdichter, bedient. Der eine ist Sir Edward Dyer, der andere Edward de Vere, Earl of Oxford. Und das kann nun nicht verwundern. In The Art of English Poesie werden beide hervorgehoben, an allererster Stelle, vor allen anderen Edward de Vere. „And in her Maiesties time that now is are sprong up an other crew of Courtly makers [der Verfasser überträgt das griechische Wort „poiein", „machen", wörtlich ins Englische] Noble men and Gentlemen of her Maiesties owne servauntes, who have written excellently well as it would appeare if their doings could be found out and made publicke with the rest, of which number is first that noble Gentleman Edward Earle of Oxford." [Und in der Zeit Ihrer Majestät, die jetzt ist, hat sich eine andere Gruppe von Hofdichtern gebildet aus Edelleuten und Gentlemen im Dienst Ihrer Majestät, die vorzüglich geschrieben haben, wie sich erweisen würde, könnten ihre Werke herausgefunden und wie die übrigen öffentlich gemacht werden, von denen der Erste jener adelige Gentleman Edward Earl of Oxford ist]. (The Art of English Poesie, 1589).

Zwei Erläuterungen sind wahrscheinlich vonnöten. Erstens wird in diesem Werk, das mehrere Jahre vor dem anonymen Erscheinen verfasst worden sein muss (Anfang der 1580er Jahre) , erklärt, dass die Hofdichter nicht nur ihre Gedichte nicht veröffentlichten, sondern es wird auch angedeutet, dass sie ihre Gedichte im Manuskript selten oder nicht unterzeichneten, denn der Verfasser schreibt, dass sich die Vorzüglichkeit ihrer Werke erweisen würde, könnte man herausfinden, wer was geschrieben hat. Das gilt bis heute. Selbst wenn gelegentlich der Name des Autors auf einem Manuskript zu lesen ist, bedeutet dies noch nicht, dass es sich dabei um den Autor handelt, nur dass der Besitzer des Manuskripts glaubte, den Autor zu kennen, ob zu Recht oder zu Unrecht, bleibt dahingestellt. Letztendlich sind zur Identifizierung eines Autors stilistische Kriterien zuverlässiger als Angaben von Namen. Zweitens dürfte die Formulierung modernen Lesern einige Kopfzerbrechen bereiten. Konfrontiert mit einer Zeit, die unserem Verständnis teilweise verschlossen ist, wird der moderne Leser die Neigung entwickeln, sich an Halt gebende Begriffe zu klammern, hier vielleicht an das Wort „Gentleman". Was ein „Gentleman" ist, das ist angeblich klar: Es ist die unterste Stufe des niederen Adels nach Lord (Duke, Marquis, Earl, Viscount, Baron), Sir (Ritter), und Esquire. Hier nun redet der Verfasser vom „adeligen Gentleman", dem Earl of Oxford. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man einmal realisiert hat, dass wir es nicht mit einem Titel für einen sozialen Rang zu tun haben, sondern „Gentleman" eine kulturelle Wertung anzeigt, das Verhaltensideal, das immer mehr an die Stelle des Ritterideals trat und im Unterschied zu diesem weniger auf militärische Tugenden als auf Verhaltensnormen den Schwerpunkt legte. Der „Gentleman" in diesem Sinn war ein Gebildeter mit einer kultivierten Verhaltensweise.

Der Kreis, in dem Southwell verkehrte, war ein Kreis von „Gentlemen". Dieser Kreis von Landadligen war nicht deckungsgleich mit dem der Hofadligen, aber beide Gruppen gehörten zum Adel und standen in enger Beziehung zueinander. Southwell kannte zumindest dem Namen nach etliche der Personen, die in The Art of English Poesie aufgelistet sind: Earl of Oxford, Lord Buckhurst, Walter Ralegh, Fulke Greville, Edward Dyer. Er dürfte einigen von ihnen auch begegnet sein. Wahrscheinlich dem Earl of Oxford, der mit Lord Vaux of Harrowden freundschaftliche Beziehungen unterhielt (aus Platzgründen bleibt diese Angabe unbelegt). Lord Vaux wiederum war Southwells erste Anlaufstelle bei seiner Einreise nach England. Er kannte auch einen Dichter mit den Initialen W.S. War ihm Venus und Adonis bekannt, als er zwischen 1592 und Januar 1595 seine Widmung von Saint Peter's Complaint schrieb, so liegt es nahe, W.S. als die Initialen von William Shakespeare zu betrachten. War ihm Venus und Adonis nicht bekannt, so muss man annehmen, dass er in der Zeit zwischen 1586 (das Jahr, in dem er inkognito in England einreiste) und seiner Verhaftung im Juni 1592 einen Dichter mit den gleichen Initialen wie William Shakespeare kannte. Dann fragt sich natürlich, wer dieser Dichter gewesen sein könnte. Es kann dann kein unbedeutender Dichter gewesen sein, da ihn Southwell durch seine Widmung als Galionsfigur der „heidnischen" Liebeslyrik auszeichnet.

Es liegt die Annahme nahe, dass sich Southwell seinen „Webstuhl", auf dem er, Southwell, religiöse Stoffe weben wollte, von den Maßstäbe setzenden Hofdichtern borgte. Dass Southwell sich an Edward de Vere orientierte, soll hier nur durch eine einzige Gegenüberstellung belegt werden. 1576 war in der Anthologie The Paradyse of dainty devises Edward de Veres Gedicht "A Lover Rejected" erschienen. Vergleichen wir die dritte Strophe mit der ersten Strophe von Southwells Gedicht „Times go by Turns":

                        The stricken deer hath help to heal is wound,
                        The haggard hawk with toil is made full tame;
                        The strongest tower, the cannon lays on ground,
                        The wisest wit that ever had the fame,
                          Was thrall to Love by Cupid's slights;
                          Then weigh my cause with equal weights.

                        [Übersetzung von Kurt Kreiler:

                        Mit Glück heilt das verletzte Wild die Wunde,
                        der junge Falke wird mit Mühe zahm,
                        vor den Kanonen fällt der stärkste Turm,
                        der größte Geist, der je zu Ehren kam,
                         wird leicht in Amors Bann geschlagen.
                         Mit diesem Maß meßt mein Versagen.]

Eine kurze Zwischenbemerkung. Zu Shakespeares Sonett 1 bemerkt Helen Vendler: „Die Nebeneinanderstellung zweier unvereinbarer Kategorien - hier das Anorganische [Kerze] und Organische [Rose] - ist eine von Shakespeares zuverlässigsten Techniken, beim Leser Gedanken auszulösen." Hier finden wir Ähnliches: Hirsch, Falke, Turm, Mensch werden zueinander in Beziehung gesetzt. In seinem Gedicht „Times go by Turns" benutzt Southwell das gleiche Muster und die gleiche Technik. Die erste Strophe:

THE lopped tree in time may grow again,
   Most naked plants renew both fruit and flower;
The sorriest wight may find release of pain,
   The driest soil suck in some moistening shower.
       Times go by turns, and chances change by course,
       From foul to fair, from better hap to worse.

[In Prosa-Übersetzung:

Der gestutzte Baum wird mit der Zeit wieder wachsen,
Die nacktesten Pflanzen erneueren Frucht und Blüte;
                        Der traurigste Wicht mag Linderung seiner Schmerzen finden,
                         Der trockneste Boden einen Regenschauer einsaugen.
                              Die Zeit schwankt hin und her, das Glück wechselt seinen Lauf,
                              Von faul zu heil, von Wohl zu Leid]

Auch auf Sir Edward Dyers langes Gedicht in vierzeiligen Strophen „A Phancy" hat Southwell reagiert. Zu einem großen Teil wiederholt er einfach Dyers Worte, biegt sie aber hier und dort ins Religiöse um. Zum Beispiel schreibt Dyer in der drittletzten Strophe: „Mein Wandern ein Pfad des Klagens;/Mein Ausblick ist die Hölle,/Wo der verdammte Sisyphos und seinesgleichen, /In endlosen Schmerzen verweilen." Southwell: „Mein Wandern ein Pfad des Klagens;/Mein Ausblick ist die Hölle,/Wo Judas und seine verdammte Bande /In endlosen Schmerzen verweilen."

© Robert Detobel 2010