Southwell, Edward de Vere, Shakespeare: eine Schnittstelle (2) „My mind to me a kingdom is"

Ähnlich bildet Southwell auch einen damals sehr beliebten Liedertext um. „My mind to me a kingdom is" existiert in mehreren Manuskripten. Lange Zeit wurde es Sir Edward Dyer zugewiesen. 1975 kam Prof. Steven W. May zu dem Schluss, dass der wahrscheinlichere Verfasser Edward de Vere sei. In Harvard fand er ein Manuskript, in dem Edward de Vere als Verfasser angegeben wird. Diese Angabe allein würde allerdings nicht ausreichen. Es sind die Querverbindungen zu einigen anderen Gedichten de Veres, die seine Verfasserschaft so gut wie sichern, Gedichte, um den Themenkranz: König, Geist („mind"), „zufrieden („content"), Reichtum („wealth"), usw.

Auf dieser Webseite können der Text von „My mind to me a kingdom is" und ein weiterer Text, der als Ergänzung gelten kann, eingesehen werden. Die Texte sind dort einzelnen Lehrsätzen von Stoikern, insbesondere von Seneca, gegenübergestellt. Wie Shakespeare in Sonett 105 die klassische Platonsche Wertehierarchie gegenüber der christlichen behauptet, wie Hamlet in seinem Monolog „Sein oder nicht sein" die stoische Bewertung des Selbstmordes gegen die christliche abwägt, so nimmt Oxford in diesen Liedertexten eine eindeutige stoische Position ein. Dass es sich um einen stoischen Text handelt, wird durch Macilentes Hinweis auf das Lied in Ben Jonsons Stück Every Man Out of His Humour, Akt I, Szene 1, 12-19 bestätigt. Jonson lehnt den durchgeistigten Stoizismus in „My mind to me a kingdom is" in seiner extremen Verinnerlichung ab. Wie reagiert der christliche Dichter Southwell darauf?

Southwell fühlte sich in erster Linie als Märtyrer, nicht als Dichter berufen. Gedichte, überhaupt Literatur, standen im Dienst seiner Missionierungsarbeit. Er besaß dennoch Talent. Der transformierte Text von „My mind to me a kingdom is" gehört gewiss nicht zu seinen besten literarischen Leistungen. Der Text ist gelegentlich monoton. Zeilen wie „My poor estate is rich", „My heart is happy in itself" oder „My bliss is in my breast" klingen eher nach Litanei denn nach Psalm.

„My mind to me a kingdom is" und den ergänzenden Text kann man als eine Ode auf den stoischen Lebensweg bezeichnen: wie für Seneca ist der Geist das einzig wahre Königreich, soll man in Glück wie Unglück gleichermassen gelassen bleiben, das Glück weder in Reichtum noch Macht suchen, denn wie im Hohenlied Salomos hat alles seine Zeit und ist alles eitel, was auf Erden geschieht. Abgesehen von der positiven Einstellung des Stoizismus und der radikal negativen Einstellung des Christentums gegenüber dem Selbstmord, lässt sich die stoische Philosophie ein gutes Stück weit mit dem Christentum vereinbaren. In der Frühen Neuzeit gab es einen einflussreichen christlichen Stoizismus. Southwell übernimmt zu einem Gutteil die stoischen Gedanken in der Oxfordschen Verdichtung, wenn auch nicht immer wörtlich und in anderer Strophenform (vier- statt sechszeilig). Er fügt lediglich einige genuin christliche Grundsätze hinzu, in der ersten Strophe: „Der Glaube leitete meine Vernunft", in der zehnten Strophe die christliche Bereitschaft zur Verzeihung: „Ich wende einen jüngst erbitterten Feind"/ In einigen ruhigen Freund", und in der sechsten Strophe: „Mein Geist für mich ein Kaisserreich ist/Weil Gnade heilsam ist". In diesem Satz scheint Southwell die Überlegenheit seines christlichen Geistes über Oxfords stoischen Geist ausdrücken zu wollen, stiftet der letzte doch nur ein Königreich, der christliche Geist ein Kaiserreich.

Kreuzen sich die Wege Oxfords, Southwells und W.S.' in „My mind to me a kingdom is", „Content and Rich" und der Widmung an "my loving cousin"? In der letzten Strophe des zweiten Textes schreibt Oxford: „Extremes are counted worst of all:/The golden mean between them both,/Doth surest sit and fear no fall" („Extreme gelten als allerschlechtest:/Der gold'ne Mittelweg zwischen beiden,/Ist sicher und fürchtet keinen Fall). In „Content and Rich" schreibt Southwell: „That mean, the surest lot, /That lies too high for base contempt,/ Too low for envy's shot" („Das Mittlere, das sicherste Los,/Das für niedrige Verachtung zu hoch ist,/Für den Pfeil des Neids zu niedrig"). Die Widmung zu Saint Peter's Complaint heißt es am Ende: „and let the Meane, I pray you, be still a part in all your musicke." („lass... die Mitte weiterhin einen Teil Deiner Musik sein.")

Der „goldene Mittelweg" war ein weit verbreiteter Topos in Renaissance und Früher Neuzeit. Es ist deshalb vielleicht zu gewagt, darüber eine Verbindung herzustellen. Aber auf jeden Fall treffen sich Southwell und Oxford hier... und beide mit Shakespeare, genauer: mit Shakespeares König Heinrich VI. In Akt III, Szene 1 werden einige Sätze aus „My mind to me a kingdom is" fast wörtlich übernommen und andere Stellen erinnern an Dichtung, die unter Oxfords Namen überlebt hat.  

Heinrich VI. wird von Shakespeare als der schwache König dargestellt, der er historisch war, zum Regieren unfähig, ein Kind, das nie erwachsen wird, von der Harmonie des Kindseins nicht Abschied nehmen kann und es jedem recht machen möchte. Aber inmitten der blutrünstigen Barone und der blutdürstigen Königin Margareta - bei der sich Shakespeare mehrere dichterische Freiheiten wider die historische Wahrheit nimmt - ist Heinrich eine höchst menschliche Erscheinung und nimmt Züge Hamlets an. Als fünftes Rad am Wagen von Königin Margareta und Clifford vom Schlachtfeld fortgejagt, verfolgt er auf einem Maulwurfhügel das Kampfgeschehen und wie Hamlet beim Zug des Fortinbras gegen Polen fragt er nach dem Sinn, das Leben in der Schlacht zu wagen. Er träumt von einem Schäferdasein, von einer Welt, in der die stetig gestundeten Tage in Ewigkeit gleichender Wiederkehr aufeinanderfolgen bis zum Grab.

                                Wär ich doch tot, wärs Gottes Wille so!
                                Wer wird in dieser Welt des Jammers froh?
                                Oh Gott! mich dünkt, es wär ein glücklich Leben,
                                Nichts Höhers als ein schlichter Hirt zu sein
                                ...
                                Minuten, Stunden, Tage, Monden, Jahre,
                                Zu ihrem Ziel gediehen, würden so
                                Das weiße Haar zum stillen Grabe bringen!...
                                Ach, welch ein Leben wärs! wie süß, wie lieblich!
                                Gibt nicht der Hagdorn einen süßern Schatten
                                Dem Schäfer, der die fromme Herde weidet,
                                Als wie ein reich gestickter Baldachin
                                Dem König, der Verrat der Bürger fürchtet?
                                (Heinrich VI., Teil 3)

Nach der Schlacht (III.1) ist er vermummt auf der Flucht und wird von zwei Förstern gestellt. Es entspinnt sich folgender Dialog:

SECOND KEEPER. Ay, but thou talk'st as if thou wert a king. KING HENRY. Why, so I am- in mind; and that's enough.
SECOND KEEPER. But, if thou be a king, where is thy crown?
KING HENRY. My crown is in my heart, not on my head;
Not deck'd with diamonds and Indian stones,
Not to be seen. My crown is call'd content;
A crown it is that seldom kings enjoy.
ZWEITER FÖRSTER: Ja, doch du sprichst, als ob du König wärst!
KÖNIG: Ich bin's auch, im Gemüt - das ist genug.
ZWEITER FÖRSTER: Bist du ein König, wo ist deine Krone?
KÖNIG: Im Herzen trag ich sie, nicht auf dem Haupt,
Nicht mit Diamanten prangend und Gestein,
Noch auch zu sehn: sie heißt Zufriedenheit,
Und selten freun sich Kön'ge dieser Krone!


In König Heinrich VI., zweiter Teil, IV.9, spricht er folgende Worte, die an de Veres „Were I a King" erinnern:

Was ever king that joy'd an earthly throne
And could command no more content than I?
No sooner was I crept out of my cradle
But I was made a king, at nine months old.
Was never subject long'd to be a King
As I do long and wish to be a subject.

Saß wohl ein König je auf ird'schem Thron,
Dem nicht zu Dienst mehr Freude stand wie mir?
Neun Monden alt, zum König ward ernannt.
Nie sehnt ein Untertan sich nach dem Thron,
Wie ich mich sehn, ein Untertan zu sein.

Die innere Zufriedenheit ist das wahre Glück. Die innere Zufriedenheit, durch die das Individuum zum König seines Selbst wird, ist auch das Thema eines Sechszeilers Edward de Veres, „Were I a King", der 1594 von John Mundy zu einem mehrstimmigen Lied vertont wurde. Auf diesen Sechszeiler antworteten zwei anonyme Höflinge mit einem eigenen Sechszeiler. Eine der beiden Antworten legt nahe, daß der Verfasser den Dichter von „Were I a King" auch für den von „My mind to me a kingdom is" hielt. Edward de Veres Sechszeiler:

                                Were I a king I might command content;
                                Were I obscure unknown would be my cares,
                                And were I dead no thoughts should me torment,
                                Nor words, nor wrongs, nor love, nor hate, nor fears;
                                A doubtful choice of these things which to crave,
                                A kingdom or a cottage or a grave.

                                Wär' ich König, könnt' ich Zufriedenheit befehlen.
                                Wär ich ein Niemand, es hörte keiner meine Klagen.
                                Und wär' ich tot, Gedanken würden mich nicht quälen,
                                Nicht Worte, Haß noch Liebe, Schmach und andre Plagen.
                                Doch welche Qual die Wahl, die ich da hab':
                                Ein Königreich, ein Hüttchen oder Grab.

Eine der beiden anonymen Antworten (gelegentlich Sir Pilip Sidney zugeschrieben, aber die Zuschreibung steht auf unsicherem Boden):

                                Were thou a king, yet not command content.
                                Where empire none thy mind could yet suffice.
                                Were thou obscure, still cares would thee torment,
                                But were thou dead all care and sorrow dies.
                                An easy choice of three things which to crave,
                                No kingdom nor a cottage, but a grave.

                                Wärst du ein König und nicht Zufriedenheit befehlen;
                                Wo nicht ein Kaiserreich, könnte dein Geist dir reichen.
                                Wärst du ein Niemand, Sorgen würden weiter quälen,
                                Und wärst du tot, die Sorgen würden weichen.
                                Die Wahl ist leicht, was ich zu wählen hab':
                                Kein Königreich, kein Hüttchen, nur das Grab.

Und dies spricht dann doch dafür, dass der „loving cousin W.S." William Shakespeare ist, der wahre Verfasser William Shakespeare.

© Robert Detobel 2010