Shapiro-Tagebuch (40) Shakespeare und Søren Kierkegaard

Auf Seite 59 weist Shapiro auf die Gefahr des „Voyeurismus" hin, die vom Ausloten des biografischen, zumal sexuellen Hinter- und Untergrundes der Sonette ausgeht. Die Analyse droht zur chronique scandaleuse zu verkommen, wenn bevorzugt solche Fragen gestellt werden wie: Wer hatte was mit wem? War Shakespeare homosexuell? Oder bisexuell? Oder handelte es sich um eine platonische Beziehung? Nun braucht man nicht unbedingt voyeuristisch zu werden, wenn man versucht, die Art der Beziehungen zum jungen Mann, zur „dark lady" oder zum Dichterrivalen zu verstehen. Diese Beziehungen sind real, ob nun real jenseits der Poesie, poetische Realität oder vielleicht eine Mischung von beiden. Man kann auch „verweilen und sehen", aber „versehen und reden" scheint Shapiro besser zu munden. Begreiflicherweise, da er sich gegen Autobiografisches versehen und versichern möchte. Verweilen, sehen und nachdenken tun wir im Folgenden mit den Augen des dänischen Denkers Søren Kierkegaard. Shakespeare, der „große Shakespeare", wie er ihn nennt, hat einen großen Einfluss auf Kierkegaard ausgeübt. Er bekennt ausdrücklich, dass Shakespeare sein Lieblingsschriftsteller und Mozart sein Lieblingskomponist ist.

Kierkegaard war verlobt mit Regine Olsen. Er löste die Beziehung auf, nicht weil er sie nicht liebte, sondern weil „in seiner Liebe die Idee in Bewegung war" (Die Wiederholung, übersetzt von Liselotte Richter, Reinbek bei Hamburg, 1961, S. 15). Über die Art dieser Beziehung und den Grund ihrer Auflösung meditiert er in der Schrift Die Wiederholung und in mehreren Essays, die in Entweder-Oder gesammelt sind. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Essay „Das Tagebuch des Verführers" (übersetzt von Heinrich Fauteck, München 1963) wichtig. Shakespeares Beziehung zum jungen Mann der Sonette ist eine mysteriöse Beziehung, Kierkegaards Beziehung zu Regine Olsen ebenfalls. Nur dass Kierkegaard über seine Beziehung ausführlich in einem philosophischen Diskurs geschrieben hat.

Das Grundthema dieses Diskurses ist: entweder liebe ich ästhetisch oder ich liebe ethisch. Die Wiederholung und Entweder-Oder handeln von der Spannung zwischen der ästhetischen und ethischen Liebe. Das ist ermutigend, so Helen Vendler recht hat, wenn sie zu Sonett 40 anmerkt, dass dieses Sonett „einen hilflos dem Schönen ausgelieferten Sprecher zeigt, für den das Ästhetische die zentrale notwendige Essenz und Substanz von allem ist und andere Qualitäten, selbst Todsünden, nur kontingent und nebensächlich sind." (S. 207) Denn auch der junge Mann namens Johannes, der Verfasser des Tagebuchs des Verführers liebt ungewöhnlich: ästhetisch. „Verliebt bin ich zwar, doch nicht in gewöhnlichem Sinne..." (S. 62). Er will die junge Frau, in die er verliebt ist, nicht als Frau heiraten und haben, sondern sich durch die junge Frau inspirieren lassen und sich ästhetisch an ihr erfreuen. „Das Ethische ist in der Wissenschaft wie im Leben gleich langweilig. Welch ein Unterschied: unter dem Himmel der Ästhetik ist alles leicht, schön, flüchtig; wenn die Ethik dazu kommt, wird alles hart, eckig, unendlich langweilig." (S. 68)

In Die Wiederholung wird der gleiche junge Mann ironisch Constantin Constantius genannt. Dieser hat sich in die junge Frau verliebt und realisiert fast im gleichen Augenblick, dass es keine „normale" Liebe ist. Es ist eine lyrische Liebe, was bedeutet, dass er lyrisch über die Wirklichkeit hinaus ist und gleichzeitig in die junge Frau UND die eigene lyrische Beflügelung verliebt ist. Er kann beides nicht voneinander trennen, so dass die junge Frau nie ein eigenständiges Du für ihn ist, nicht eine Bezeihung zwischen einem Du und Ich, sondern zwischen einem „Du-Ich" und einem „Ich-Du". „Nun begriff ich alles leicht. Das junge Mädchen war nicht seine Geliebte, sie war der Anlass, welcher das Poetische in ihm erweckte und ihn zum Dichter machte. Deshalb konnte er nur sie lieben, nie sie vergessen, nie würde er eine andere lieben und doch beständig sich nur sehnen nach ihr. Sie war mit in sein ganzes Wesen hineingezogen, das Andenken an sie war ewig frisch, sie hatte ihn zum Dichter gemacht, und gerade dadurch hatte sie ihr eigenes Todesurteil unterschrieben." (Wiederholung, S. 13)

Es dürfte nicht schwerfallen diese „lyrische Symbiose" gleich in mehreren Sonetten aufzuspüren. Es sei hier nur auf die Anfangszeilen von Sonett 36 verwiesen: „Let me confess that we two must be twain,/ Although our undivided loves are one;" („Laß mich's gestehn, wir müssen Zweie sein,/Wenn unsre Lieb' uns auch untrennbar einigt;). Das heute veraltete Wort „twain", das man ins Deutsche vielleicht als „Zwielinge" übersetzen könnte, schließt das Wort „twin", „Zwilling", ein, so wie auf das Geständnis, „twain" sein zu müssen, das Bekenntnis folgt, „twin" zu sein.

Kierkegaard beschreibt im Tagebuch des Verführers auch das Verhältnis von Poesie und Wirklichkeit. Im Tagebuch ist der junge Mann aus der Wiederholung zum Dichter geworden. „Sein Leben ist ein Versuch gewesen, die Aufgabe eines poetischen Lebens zu realisieren. Mit einem scharf entwickelten Organ, das Interessante im Leben ausfindig zu machen, hat er es zu finden gewußt und, nachdem er es gefunden hatte, das Erlebte immer wieder halb dichterisch reproduziert. Sein Tagebuch ist darum nicht historisch genau oder einfach erzählend, sondern konjunktivisch. Obwohl natürlich das Erlebte aufgezeichnet ist, nachdem es erlebt wurde, bisweilen vielleicht sogar längere Zeit danach, ist es doch oft so dargestellt, als ob es im selben Augenblick vor sich ginge, so dramatisch lebendig, daß es manchmal ist, als spielte sich alles vor unseren Augen ab... Wie läßt es sich nun erklären, daß das Tagebuch dessenungeachtet einen solchen dichterischen Anstrich erhalten hat? Die Antwort hierauf ist nicht schwer; es läßt sich aus der dichterischen Natur erklären, die in dem Verfasser steckt, die aber, wenn man so will, nicht reich genug, und wenn man so will, nicht arm genug ist, um Poesie und Wirklichkeit voneinander zu scheiden. Das Poetische war das Mehr, das er selbst mitbrachte. Dieses Mehr war das Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoß; das nahm er wieder zurück in Form von dichterischer Reflexion. Dies war der zweite Genuß, und auf Genuß war sein ganzes Leben berechnet. Im ersten Fall genoß er persönlich das Ästethische, im zweiten Fall genoß er ästhetisch seine Persönlichkeit. Im ersten Fall war die Pointe die, daß er egoistisch persönlich genoss, was teils die Wirklichkeit ihm gab, womit er teils selbst die Wirklichkeit geschwängert hatte; im zweiten Fall verflüchtigte sich seine Persönlichkeit, und so genoss er denn die Situation und sich selbst in der Situation. Im ersten Fall bedurfte er ständig der Wirklichkeit als Anlass, als Moment; im zweiten Fall war die Wirklichkeit im Poetischen ertrunken. ... Hinter der Welt, in welcher wir leben, fern im Hintergrund liegt eine zweite Welt, die zu jener etwa im selben Verhältnis steht wie die Szene, die man im Theater bisweilen hinter der wirklichen Szene sieht, zu dieser. Man erblickt durch einen dünnen Flor gleichsam eine Welt aus Flor, leichter, ätherischer, von anderer Bonität als die wirkliche. Viele Menschen, die leiblich in der wirklichen Welt erscheinen, sind nicht in dieser zu Hause, sondern in jener anderen. Die Tatsache jedoch, daß ein Mensch derart dahinschwindet, ja nahezu der Wirklichkeit entschwindet, kann ihren Grund entweder in einer Gesundheit oder in einer Krankheit haben. Letzteres war bei diesem Menschen der Fall, den ich einmal gekannt habe, ohne ihn zu kennen. Er gehörte nicht der Wirklichkeit an, und doch hatte er viel mit ihr zu tun. Er lief beständig über sie hin, aber selbst dann, wenn er sich am meisten hingab, war er immer schon über sie hinaus... Er hat etwas von einer exacerbatio cerebri, für welche die Wirklichkeit nicht genügend Inzitament besaß, oder doch allenfalls nur für Momente. Er verhob sich nicht an der Wirklichkeit, er war nicht zu schwach, sie zu tragen, nein, er war zu stark; aber diese Stärke war seine Krankheit. Sobald die Wirklichkeit ihre Bedeutung als Inzitament verloren hatte, war er entwaffnet..." (S. 6-8) [Hervorhebungen von mir]

Zusammengefasst: die Wirklichkeit ist dem Dichter Anlass; er bedarf ihrer; was er wiedergibt, ist jedoch poetisch angereicherte Wirklichkeit, denn er fliegt lyrisch über die Wirklichkeit hinaus. Übrigens liegt m. E. diese Auffassung auch Helen Vendlers Deutung der Sonette zugrunde. Es bedeutet, dass jeder Versuch, die Sonette als einen roman à clef zu lesen, in die Irre führen muss, und auch die Frage, ob Shakespeare eine sexuelle oder platonische Beziehung zum jungen Mann hatte, wenn nicht völlig überflüssig, so doch ganz und gar zweitrangig ist.

Die Liebe von Kierkegaards Dichter zur jungen Frau kann man auf das Verhältnis von Shakepeare zum jungen Mann übertragen. „Ich sei in mich selbst verliebt, sagt man von mir. Das wundert mich nicht; denn wie sollte man merken können, daß ich zu lieben vermag, da ich nur Dich liebe, wie sollte sonst jemand es ahnen, da ich nur Dich liebe? Ich bin in mich selbst verliebt, warum? Weil ich in Dich verliebt bin; denn Dich liebe ich, Dich allein und alles, was Dir in Wahrheit gehört, und also liebe ich mich selbst, weil dieses mein Ich ja Dir gehört, so daß, wenn ich Dich zu lieben aufhörte, ich aufhören würde, mich selbst zu lieben. Was also in den profanen Augen der Welt Ausdruck des größten Egoismus ist, das ist für Deinen eingeweihten Blick Ausdruck der reinsten Sympathie, was in den profanen Augen der Welt Ausdruck der prosaischsten Selbsterhaltung ist, das ist für Dein geheiligtes Gesicht Ausdruck der begeistertsten Vernichtung meiner selbst." (S. 104).

„Lord of my love, to whom in vassalage /Thy merit hath my duty strongly knit;" heißt es in Sonett 26 („Herr meiner Lieb', in dessen Lehenspflicht/Dein Wert so streng als Schuldner mich gebeugt"). Der „Lord" nimmt in Sonett 20 weibliche Züge an, „master mistress of my passion" („herr-herrin meiner minne", übersetzt Stefan George). Dieses Sonett 20 drückt am deutlichsten aus, dass das Liebesverhältnis kein sexuelles ist: es ist ein lyrisches, das zwar die äußere Erscheinung zur Voraussetzung, aber nicht weniger zur Voraussetzung die Identifizierung hat. Das lyrische Ich wird in dem Verhältnis gleichzeitig zum Knecht, zum Untertan. Die Identifizierung wird immer dann bemüht, wenn die lyrische Stimmung an der äußeren Erscheinung zu zerbrechen droht. In den Schlussversen des Sonettes 42 wird eine in einem gewöhnlichen Liebesverhältnis ungewöhnliche, in einem ungewöhnlichen jedoch nicht so ungewöhnliche Identifizierungsarbeit geleistet: „But here's the joy, my friend and I are one,/Sweet flattery! then she loves but me alone." („Doch Freude macht: Eins sind mein Freund und ich;/O, süße Schmeichelei, - sie liebt nur mich.").

Wer ist nun die „dunkle Dame"? Die Hinweise bleiben spärlich. Mehr sagen uns die Sonette nicht. Und zwar nicht so sehr, weil der Dichter sein Geheimnis hätte behalten wollen, sondern weil der Betrug für sein lyrisches Verhältnis zum jungen Mann fast nebensächlich ist. Mit anderen Worten, es interessiert ihn kaum! Die größte Gefahr, die tödliche Gefahr für diese ästhetische Beziehung ist das Zerbrechen des lyrisch beflügelnden Bildes an den Realitäten.

Und diese Angst schwingt in mehr als einem Sonett mit, vielleicht am aufgeschrecktesten in der Schlusszeile von Sonett 94: „Lilies that fester smell far worse than weeds." („Lilien, die faulen, riechen viel schlimmer als Unkraut.")

© Robert Detobel 2010