Shapiro-Tagebuch (43) Homer, Jesus und die Höhere Kritik

Zu Kapitel I, (S. 78-89)

1794 gab Friedrich August Wolf, Professor in Halle, sein Werk Prolegomena ad Homerum heraus. Fast 100 Jahre später griff Friedrich Nietzsche das Thema bei seiner Baseler Antrittsvorlesung auf und stellte die Frage, ob aus einem Konzept eine Person oder aus einer Person ein Konzept gemacht worden sei. Wolf selbst hatte die als Höhere Kritik bekannte Methode von Johann Gottfried Eichhorn in seiner Einleitung ins Alte Testament angewandt. 1835 wandte sie David Friedrich Strauss in Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet auf das Neue Testament an.

Da Shakespeare selbst vergöttert wurde, konnte es, glaubt Shapiro, nicht mehr lange dauern, bis man Shakespeares Leben wie das Leben Jesu einer entmythologisierenden Kritik unterzog. Aber derjenige, der mit dieser Entmythologisierung Ernst zu machen begann, war der von Shapiro so gescholtene Edmund Malone. Erst im Sog der unter orthodoxen Prämissen betriebenen Shakespeareforschung entstanden und wuchsen die Zweifel an der Verfasserschaft des Mannes aus Stratford. Das Bild, das sich aus dem, was man einer „Großfahndung" nennen könnte, ergab, war das eines hauptsächlich in Stratford-on-Avon tätigen Kleinhändlers. Man vergleiche nur Shakespeare, den Größten seiner Zeit, mit Ben Jonson, dem vielleicht Zweitgrößten seiner Zeit. Es sind Dokumente zu Ben Jonson vorhanden und sie beziehen sich fast alle auf die Welt der Literatur; es sind noch mehr Dokumente zu Shakespeare vorhanden und fast alle beziehen sich auf Geschäfte in Stratford.

Was Malone und andere Shakespeare-Forscher wie James Orchard Halliwell-Phillips anstrebten, war eine Biografie Shakespeares, die wissenschaftliche Kriterien erfüllte. Der Versuch schlug fehl, weil für eine solche Biografie des Mannes aus Stratford zwar genug Dokumente vorhanden waren, aber keine, die auf irgendeine literarische Tätigkeit hinwiesen. Den Schlüssel zum Zweifel an der orthodoxen These liefert Shapiro in seinem ersten Kapitel selbst, wo er sich mit dem Fälscher John Payne Collier beschäftigt.

„Colliers zahlreiche Entdeckungen in den 1830er und 1840er Jahren boten ein Gegengewicht zu einer dokumentarischen Basis, die zu schwerlastig in Richtung Stratford und Geschäfte neigte." (S. 72).  „Als Faustregel gilt, dass das, was Collier in Bezug auf Shakespeare aus Stratford und seine Geschäftsaktivitäten herausfand, der Wahrheit entsprechen, während er jene, die mit Blackfriars, Southampton oder dem Globe oder mit irgendwas, das in Zusammenhang mit Shakespeare schöpferischem Leben stand, fabrizierte... Collier hatte mehr Dokumente über Shakespeare als irgendjemand vor oder nach ihm gefunden; es waren nur nicht diese, die er zu finden gehofft hatte. Die er nicht fand, erfand er." (S. 74)

Die Vergötterung Shakespeares als nationaler englischer Dichter setzt spätestens 1741, im Geburtsjahr Malones,  mit der Errichtung der Shakespeare-Statue in Westminster Abbey ein. Sie erreicht 1769 einen weiteren Höhepunkt mit David Garricks Inszenierung des Jubiläums in Stratford (es hätte fünf Jahre früher, zum 200. Geburtstag,  stattfinden sollen). Ihre Wurzeln können noch weiter zurückverfolgt werden. Mit Malone, der versuchte, die Biografie auf eine rationale empirische Basis zu stellen, setzt eigentlich die Entgötterung ein. Und, es sei wiederholt, die Forschungen Malones und seiner Nachfolger im 19. Jahrhundert stellen in keiner Weise die Verfasserschaft Shakespeares aus Stratford in Frage. Erst das Ausbleiben von Ergebnissen mit Bezug auf eine literarische Tätigkeit ruft die Zweifler auf den Plan. Daran entzündet sich der Impuls, nach alternativen Kandidaten zu suchen, nicht an dem Bedürfnis, nach dem Beispiel der Homer- oder Bibelforschung einen Halbgott oder Gott vom Sockel zu stürzen.

Aber Shapiro muss, weil er jede Auseinandersetzung mit sachlichen Argumenten der Zweifler abgewiesen hat, zwangsläufig den Ort der Debatte auf die Meta-Ebene der Gesinnung verlegen. Einen willkommenen Vorwand bietet ihm dazu der amerikanische lutheranische Pfarrer Samuel Mosheim Schmucker (1823-1863), auch Verfasser populärer Biografien von Alexander Hamilton und Thomas Jefferson. Mit seinem 1847 erschienenen Buch Historic Doubts Respecting Shakespeare beabsichtigte Schmucker, Straussens Leben Jesu am Beispiel Shakespeares ad absurdum zu führen. Wenn ich die Methode, die David Friedrich Strauss auf das Leben Jesu anwende, so Schmuckers Argument, gelange ich zu dem offensichtlich unsinnigen Schluss, dass Shakespeare nicht der Dichter ist, für den er gehalten wird.

Einige von Shapiro zitierten Stellen aus Schmuckers Attacke gegen Strauss:

„Wenn zu Shakespeares Lebzeiten keine solchen authentischen Dokumente geschrieben wurden, so müssen alle späteren Mitteilungen über ihn der historischen Wahrheit oder Authentizität entbehren".  „Die einen [Shakespeares Biografen] haben die Echtheit eines Stückes, die anderen die Echtheit eines anderen vertreten... Was ein Kritiker behauptet, wird von einem anderen verworfen." (S. 87) „Selbst wenn wir die Fakten über den Mann Shakespeare akzeptierten, so besäßen diese persönliche Lebensdaten keinerlei Gewicht für den Beweis, dass er der mutmaßliche Verfasser und Dichter sei. Zwischen den bekannten Lebensdaten und dem Werk bestünde keine sinvolle Beziehung." (S. 87-88) „Der britische Nationalstolz bedurfte unbedingt eines großen Dramatiker zu Ehren der Nation... Er wurde im Laufe der Zeit und durch die Wirkung bestätigter Präjudizierung, von Ignoranz und Stolz, zur überragenden Figur der Welt der Literatur." (S. 88)

Was würde nun geschehen, fragt Schmucker, wenn der unumstößliche Beweis erbracht würde, dass Shakespeare ein Betrüger ist? Würden die wahren Gläubigen es zugeben? Nimmer. „Die Menschen werden es weiter vorziehen, die willigen Genarrten eines faszinierenden Schwindels zu sein." (S. 88).  Er beschließt: „Wenn jeder Versuch, Shakespeares Geschichte wertlos zu machen,... lediglich zum Ergebnis führt, sie zu bestätigen, umso mehr muss jeder Angriff auf Christi außerordentliche Geschichte dazu führen, sie zu bestätigen und zu festigen, jenseits aller künftigen Anfechtungen." (S. 89)

Schmucker, so konkludiert Shapiro, habe das Drehbuch der Skeptiker geschrieben. Und auch wenn sie ihn nicht kannten, so wären sie ihm doch gefolgt. Diese Skeptiker seien sich des theologischen Ursprungs ihrer Zweifel bewusst gewesen und es könne daher nicht überraschen, dass die einflussreichsten Skeptiker sich der Verfasserschaftsfrage zuwandten, nachdem sie eine geistige Krise durchschritten hätten.

Wie soll man das nennen? Die Niedere Kritik vielleicht?

An die Stelle des Predigers Schmucker ist der Conférencier Shapiro getreten, dem es kein Gedanken wert ist, dass Krisen meist zum Nachdenken führen. Die Frage, was geschehen würde, wenn der Beweis erbracht würde, dass Shakespeare aus Stratford nicht mit dem Dichter identisch sein könne, kann beantwortet werden: Shapiro würde sich keinesfalls umso tiefer in seine Ansicht eingraben, er tut es von vornherein, indem er sich auf sachliche Argumente nicht einlässt.

Noch etwas ist in aller Nüchternheit, bar allen Glaubenseifers festzuhalten. Es geht nicht nur darum, dass wir zu wenig über Shakespeare wissen: wir wissen zuviel. Homer, die Propheten des Alten Testaments, Jesus haben ja keine Urkunden über Grundstückskäufe u. a. hinterlassen, aus denen sich zwangsläufig das Bild eines Semi-Analphabeten ergibt. Shapiro spricht diesen Punkt selbstverständlich nicht an.

Die Zweifel an der Verfasserschaft Shakespeares nähren sich nicht aus einer Reihe von Lücken, sie nähren sich aus einer Kette von Ungereimtheiten.

Kurz, sie nähren sich daraus, dass wir zuviel wissen, und nicht zuletzt an den immer biederer werdenden Versuchen einer bestimmten Ausprägung der Orthodoxie, diese Zweifel salonunfähig zu machen. Die Versuche haben immer weniger mit Wissenschaft zu tun. Sie verflüssigen sich erst ins Posenhafte und verflüchtigen sich dann ins Possenhafte.

© Robert Detobel 2010