Shapiro-Tagebuch (44) Kapitel "Bacon"

Ein passender Titel für dieses Kapitel wäre gewesen: „Leitbildersturm". Die zu stürmenden Leitbilder sind vor allem Mark Twain und Henry James, obwohl letzterer sich nie für einen alternativen Kandidaten ausgesprochen hat. Wohl hatte er in einem Brief die Vermutung geäußert, der ganze Stratford-Mythos sei vielleicht der größte Schwindel, der einer geduldigen Menschheit je zugemutet worden sei.

Über Mark Twain schreibt Shapiro (S. 155):

„Er hatte fast vom Anfang seiner literarischen Laufbahn an unter einer vorgeblichen Identität geschrieben, und es ist ein bedeutungsvoller Gemeinplatz, das kein Schriftsteller je mehr besessen war von Zwillingen, Doppelgängern, Pseudonymen und Schwindel und die Verwechslung von Identitäten."

Nicht nur prädisponiert, scheint Shapiro uns einreden zu wollen, war Mark Twain, hinter Shakespeare einen Anderen zu vermuten, er war gleichsam prädestiniert dazu.

Behauptet Shapiro, Twain sei selbst ein Schwindler gewesen? Er suggeriert es zumindest.

„Eines der merkwürdigsten Aspekte von Is Shakespeare Dead? ... ist Twains Insistieren darauf, dass Shakespeare die Stücke nicht geschrieben haben könne, weil er die Rechtssprache, die in diesen Stücken vorkommt, nicht hätte meistern können. Twain selbst hatte solche Kenntnisse auch nicht, aber [George] Greenwood hatte sie, und es war dies das zentrale Argument in The Shakespeare Problem Restated [Anmerkung von mir: George Greenwoods Werk erschien 1908; es hat ca. 545 Seiten; das Kapitel „Shakespeare as a Lawyer", S. 371-417, hat 46 Seiten, weniger als 10%; es ist nur EINES der Hauptargumente Greenwoods]. Twain war so beeindruckt von Greenwoods Argument, dass er es zu seinem eigenen machte, indem er den Großteil von Greenwoods Kapitel ausschnitt und es unverändert und ohne Zuschreibung in sein Buch einklebte... Wieder war mächtige Ironie im Spiel: Twain plagiierte Greenwoods Worte in einem Werk mit dem Untertitel From My Autobiography, um  Shakespeares Anspruch auf die Verfasserschaft in Frage zu stellen..." (S. 157)

William Niederkorn hat in seiner Rezension von Shapiros Buch gezeigt, dass Shapiro - wieder einmal! - nicht richtig hingeschaut hat. Twaine hatte nicht den Autor genannt, wohl aber angegeben, dass es sich um das Kapitel aus dem Buch The Shakespeare Problem Restated handelte.

Von Henry James heißt es bei Shapiro (S. 161), er sei zwei Jahre vor seinem Tod bei dem Gedanken, was seine Biografen über ihn schreiben würden, so nervös gewesen, dass er, nachdem er bereits Manuskripte und tausende Briefe den Flammen übergeben habe, seinen literarischen Testamentvollstrecker angewiesen habe, in sein Testament einen „Fluch einzufügen, der nicht weniger deutlich als Shakespeares eigener für jeden, der versuchen sollte, seine Gebeine zu entfernen". Für „Gebeine" oder „stoffliche Überreste" wie für „literarischer Nachlass" kennt das Englische das Wort „remains". Wenn denn Henry James dabei war, seinen Nachlass teilweise zu vernichten, kann ihm eigentlich nur daran gelegen gewesen sein, die Biografen nicht in seinem Nachlass („remains") graben zu lassen; wenn er überzeugt war, dass Shakespeare aus Stratford nicht die Stücke geschrieben hatte, dürfte Henry James doch gemeint haben, dessen literarischer Nachlass, „remains" bestünde nur aus den Gebeinen („bones"). Diese Ironie scheint Shapiro entgangen zu sein.

Gegenüber Mark Twain und Henry James zeigt sich Shapiro von seiner missverständnisvollen Seite. Delia Bacon (1811-1859) war eine der allerersten, die die orthodoxe Zuschreibung in Zweifel zogen. Sie starb in einer psychiatrischen Anstalt. Sie eignet sich deshalb nicht gut als Leitbild. Ihr gegenüber kann sich Shapiro von seiner verständnisvollen Seite zeigen.

© Robert Detobel 2010