Pseudonym, Maske, Strohmann

 Just bevor ich diesen Artikel beginnen wollte, passierte mir etwas Peinliches. Aller Anfang ist schwer. Der Schwung der Ouvertüre einer Symphonie Beethovens hat mir oft den Weg zur eigenen Ouvertüre gebahnt und die anfänglichen Schreibhemmungen zu überwinden geholfen. Diesmal nicht. Vielleicht könnte eine Zigarette mir den Start erleichtern, dachte ich. Ich lief schnell hinunter zum Zeitungsladen gegenüber. Zu meinem Ärger – wieder Zeit verloren! – gab mir der Ladeninhaber kein Geld zurück. Meine Haltung signalisierte deutlich, dass ich da nicht nur einfach stand, sondern auch auf die 5 Euro wartete, die er mir auf meine 10 Euro zurückgeben musste. Die Haltung des Ladeninhabers signalisierte, dass auch er auf etwas wartete. Ich fragte schließlich, ob er meinte, mir das Geld schon zurückgegeben zu haben. Er sagte, ich hätte ihm noch nichts gegeben. Ein klarer Versuch, meine Gedankenabwesenheit zu nutzen, um betrügerisch 10 Euro einzustecken. Ich erinnerte mich allzu genau: ich hatte einen 10-Euro-Schein in den Geldbeutel gesteckt  und den sofort auf die Ladentheke gelegt. Ich wollte mich nicht auf weitere Diskussionen einlassen, denn dieser Artikel wartete auf mich. Innerlich siedend, rannte ich die Treppe zur Wohnung wieder hinauf, schwörend, dass dies das allerletzte Mal sein würde, dass ich in diesem Laden irgendetwas gekauft hatte. Die Strafe für diesen billigen Betrugsversuch konnte den „Geschäftsmann“ nicht teuer genug zu stehen kommen. In der Wohnung steckte ich einen anderen 10-Euro-Schein in den Geldbeutel und stellte fest, dass der erste 10-Euro-Schein, den ich auf die Ladentheke gelegt zu haben meinte, noch darin war.

Ich stand wie unter Schock. Mein Verhalten war nicht rational. Statt mich aufzuregen, hätte ich auch die Möglichkeit berücksichtigen können, dass der Ladeninhaber Recht hatte, und einfach überprüfen, ob der 10-Euro-Schein vielleicht doch noch in meinem Geldbeutel war. Ob ich nur in Gedanken, nicht jedoch in Wirklichkeit den Schein auf den Ladentisch gelegt hatte. Die gedankliche Vorstellung, ich hätte den Schein auf die Theke gelegt, hatte sich aber wirklicher als wirklich in mein Gedächtnis eingeprägt, so dass ich es nicht mehr für nötig hielt, die Aussage des Ladeninhabers ernst zu nehmen, ihm etwas anderes zu unterstellen als eine abartige Betrugsabsicht und, was praktisch und einfach gewesen wäre, doch noch einmal in den Geldbeutel zu schauen. Denn da ich nur einen Geldschein mitgenommen hatte, musste, wenn der Ladeninhaber Recht hatte, der Geldschein immer noch drin sein. Ich hätte das einfach feststellen können, war aber zu sehr überzeugt und deshalb auch gleich äußerst aufgeregt. Möglicherweise rumorte im Hinterkopf die richtige Einsicht, dass ich noch keinen 10-Euro-Schein auf den Ladentisch gelegt hatte.

Ich tröstete mich mit der Einsicht, dass es sowas wie reine Wahrnehmung nicht gebe und sich Wahrnehmung auch immer mit Wahrgebung vermischt. Anderseits konnte ich nicht leugnen, dass ich meine Wahrgebung durch Wahrnehmung hätte überprüfen können. Was will ich denn James Shapiro, dem Autor von Contested Will, für das der bessere Titel Uncontestable Will wäre, und dem Rezensentenchor in der angelsächsichen Presse vorwerfen? So unterschiedlich die Erkenntnisobjekte auch sind, bei mir die Zigaretten und der 10-Euro-Schein, bei  ihnen die Shakespeareverfasserschaftsfrage, Shapiro und seine Rezensenten nehmen im Prinzip die gleiche rechthaberische Haltung ein wie ich im Zeitungsladen. Wie ich glauben sie, nicht mehr hinschauen zu müssen. Wie ich ziehen sie die Wahrgebung der Wahrnehmung vor; wie ich, fest von meiner Vorstellung überzeugt, mich weigerte, in den Geldbeutel hineinzuschauen, und stattdessen mit rhetorisch aufgeladenen Sätzen meiner Vorstellung die Macht der Realität zu geben versuchte und nicht bereit war, die Aussage des Ladeninhabers als etwas anderes denn als abweichendes Betrugsverhalten aufzufassen, so wird Shapiro in seinem Buch nicht müde zu wiederholen, dass er nicht daran denke, in seinen Geldbeutel zu schauen, das heißt, sich auf die Sachargumente der Zweifler an der Verfasserschaft Shakespeares aus Stratford einzulassen. Wie ich ist Shapiro fest davon überzeugt, seinen 10-Euro-Schein auf den Ladentisch gelegt zu haben.  Wie ich dem Ladeninhaber nur eine Prädisposition zur Betrügerei zutraute, so traut Shapiro den Zweiflern lediglich eine Prädisposition zu, die zwangsläufig in die Irre führen müsse.  Wie mein zweifelfestes Ich sich sofort aufregte, so auch bestimmte Rezensenten von Shapiros Buch, wie der Rezensent in der Financial Times, der für die Zweifler keine andere Heilung sieht, als sich in psychiatrische Behandlung zu begeben – eine Anwandlung, die, um ehrlich zu sein, auch mir kam, als ich die Treppe hinauf rannte und einen Augenblick die Möglichkeit erwog, den Ladeninhaber wegen schlimmer Wahnvorstellungen in eine psychiatrische Anstalt einweisen zu lassen.

Und Shapiros Rezensenten folgen ihm in dieser Verweigerungshaltung mit Hallelujah-Gesang. Belehrt duch die Erfahrung im Zeitungsladen, setze ich dem mein „Allezluja“ entgegen, die französisch-englisch-deutsche Abkürzung für „Allez-y/look-into-it/ja“: Geh hin und schau hin, ja.

Das Beispiel, das wir uns näher anschauen wollen, ist ein illustres. The Guardian ist eine sehr angesehene Zeitung und Hilary Mantel eine sehr angesehene Schrifstellerin, die 2009 den Booker Prize, den angesehensten englischen Literaturpreis, erhielt. Und doch… die Rezension, die Hilary Mantel über Shapiros Contested Will im Guardian vom 20. März 2010 schrieb, zeichnet sich nicht so sehr durch Ansehen wie durch Wegsehen aus. Was ist das Ergebnis?

Nicht verbürgt aber verbogen

“History missed its chances with Shakespeare. His daughter Judith was still alive in 1662, at a time when scholars were beginning to take an interest in his life, but no one collected her testimony.”

“Die Geschichte verpasste bei Shakespeare ihre Chancen. Seine Tochter Judith war 1662 noch am Leben, als Forscher sich für sein Leben zu interessieren begannen, aber niemand holte ihr Zeugnis ein.“

Die Feststellung, dass die Geschichte Shakespeare verpasst hat, entbehrt nicht einer gewissen Feierlichkeit, entpuppt sich bei näherem Hinsehen jedoch als Floskel. Hilary Mantel hat nicht näher hingesehen. Und die Floskel der „von der Geschichte verpassten Gelegenheit“ stellt einen Versuch dar, die Hinseh-Teufel auszutreiben. Die Geschichte hat uns von Judith Shakespeare einige Zeugnisse hinterlassen, darunter das, dass sie ihren Namen nicht schreiben konnte, was nun für die Tochter des Großen Schriftstellers wo nicht zu Zweifeln, so doch zu Verwunderung berechtigt. Der einzige bekannte „Forscher“, der um 1662 Interesse an Shakespeares Leben zeigte, war der Vikar John Ward, der  in seinem Tagebuch, auf das sich Mantels Bemerkung bezieht, ohne es zu erwähnen, notierte [modernisierte Schreibung]: „Remember to peruse Shakespear’s plays, and be versed in them, that I may not be ignorant in that matter… A letter to my brother, to see Mrs. Queeny, to send for the acknowledgment.“[1] Mrs. Queeny ist Judith Quiney, geb. Shakespeare. Weiter hatte Vikar Ward auch folgendes erfahren: “Shakespeare hatte nur 2 Töchter, eine davon heiratete Mr. Hall, den Arzt, der mit ihr eine Tochter hatte, die Lady Bernard of Abbingdon.” Shakespeares Enkelin hätte Vikar Ward auch noch befragen können: sie war noch am Leben (sie starb 1670). Was hat Vikar Ward sonst noch mitzuteilen? Dass Shakespeare jährlich zwei Stücke schrieb, wofür er eine so hohe Zuwendung bekam, dass er jährlich 1000 Pfund ausgeben konnte. Hilary Mantel erwähnt es nicht. Die 1000 Pfund erhielt ja Edward de Vere, Earl of Oxford. Und weiter hat Vikar Ward auch gehört, dass Shakespeare einen natürlichen Witz ohne jede Künstelei besaß, in seiner Jugend das Theater besuchte, in seinen alten Tagen jedoch in Stratford lebte, nach einem Saufgelage mit Ben Jonson und Michael Drayton schwer erkrankte.

Aus einem anderen Grund ist die Wendung, „die Geschichte habe Shakespeare verpasst“ täuschend. Wie oft hört man nicht, wir wüssten über Shakespeare mehr als über jeden anderen Schrifsteller seiner Zeit. Die Geschichte, wenn sie denn etwas verpasst haben sollte, hat sich wie bei keinem anderen angestrengt, das Versäumte nachzuholen. Es sind in der Tat mehr Dokumente für Shakespeare vorhanden als für viele andere Schriftsteller seienr Zeit, aber eben nur Geschäftsdokumente, davon der größte Teil  Geschäfte in Stratford, nicht in London betreffend. Vikar Ward lebte in Stratford von 1662 bis 1681. Wie gründlich hat er geforscht? Es sieht fast so aus, als hätte er seine Nachforschungen über Shakespeare frühzeitig eingestellt. Er hat 17 Notizbücher hinterlassen, ein umfassender Nachlass. Aber nur fünf spärliche Angaben über Shakespeare hat man darin auftreiben können.

Und dann ist da diese verdächtige Angabe, Shakespeare habe jährlich 1000 Pfund ausgegeben. Sie fällt Hilary Mantels Zensur zum Opfer.

Der nächste, der sich 1681, um eine Kurzbiografie Shakespeares bemühte, ist John Aubrey. Er hat ziemlich kritiklos alles aufgenommen, was ihm unter die Augen kam. Aubrey zufolge war Shakespeares Vater ein Schlachter (was sich als falsch erwiesen hat), pflegte Shakespeare selbst immer eine hochtrabende Rede zu halten, bevor er ein Kalb schlachtete (wie Hamlet, bevor er das kapitale Kalb Polonius umbringt), hatte eine natürliche Neigung zur Dicht- und Schauspielkunst, usw. Die ernsthafte Forschung, die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, hat keine einzige Information Aubreys bestätigen können. John Aubrey hat aber auch einige Notizen zu Shakespeare gemacht, die er nicht zu veröffentlichen gewünscht hat. Hilary Mantel bezieht sich auf diese Notiz:

“John Aubrey was told that Shakespeare preferred a quiet life; he was no "company keeper", and if his friends wanted to go on the town he would slide off home, saying he was "in pain".”

John Aubrey wurde gesagt, dass Shakespeare ein ruhiges Leben vorzog; er war keiner, der lange in der Gesellschaft anderer blieb, und wenn seine Freunde wünschten, dass er mit ihnen in der Stadt einen trinken gehe, würde er sich mit der Entschuldigung, er hätte Schmerzen, (oder vielleicht auch, dass er in Schwierigkeiten sei) nach Hause davonstehlen.

Das ist wieder eine zensierte und verzerrte Wiedergabe von Aubreys Notiz. Diese ist nicht lang. Der vollständige Wortlaut:


“the more to be admired  q<uia> he was not a company keeper
lived in Shoreditch, wouldnt be debauched, & if invited to writ; he was in paine.
                            W. Shakespeare.
q<uaere> Mr. Beeston who knows most of him fr<om> Mr:  neer Nort at Hoglane within 6 dores — Norton — folgate.
q<uaere> etiam for B. Jonson.”

Die Angaben unterhalb des Namens Shakespeare besagen lediglich, dass Aubrey vor hat Mr. Beeston zu fragen, der am besten über ihn Bescheid wisse, und ihn auch nach Ben Jonson zu fragen. Mr. Beeston kann nur der Schauspieler und Theatermanager William Beeston sein, Sohn des Schauspielers und Theatermanagers Christopher. William Beeston kann Shakespeare kaum gekannt haben, da er erst im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts geboren wurde. Aber Christopher Beeston wird von Ben Jonson zusammen mit Shakespeare als Darsteller in Jonsons im Herbst 1598 uraufgeführten Stücks Every Man in His Humour angegeben. William Beeston könne von seinem Vater über Shakespeare etwas erfahren haben. Das, was John Aubrey, vermutlich von William Beeston, erfuhr, ist nicht das, was Hilary Mantel manipuliert wiedergibt:“umso mehr zu bewundern, als er keiner war, der lange in Gesellschaft anderer blieb; wohnte in Shoreditch, und wenn aufgefordert zu schreiben, war er in Verlegenheit.“ Chambers schreibt nach „to writ[e]“ ein Semikolon. Was auf der Abbildung erscheint, sieht jedoch eher nach einem Doppelpunkt aus. Heute folgt die Zeichensetzung grammatikalischen Regeln, im 17. Jahrhundert jedoch eher dem Sprechrhythmus. Ob nun nach „to writ“ ein Komma, ein Semikolon oder ein Doppelpunkt steht, ist für die logische Beziehung nicht relevant, sondern jedes zeigt eine längere Sprechpause an. Vielleicht hat John Aubrey wirklich den Atem länger angehalten, als er über Shakespeare notierte: „Wenn aufgefordert zu schreiben, war er in Verlegenheit“ (oder „in Schwierigkeiten“ oder „war es ihm peinlich“). Hilary Mantel hält den Atem nicht an. Statt „aufgefordert zu schreiben“ schreibt sie „aufgefordert, einen trinken zu gehen“, und dann würde sich Shakespeare nach Hause verdrücken. .

If invited to write, he was in paine

  In Kapitel 27 „Geldverleiher und Malzhändler“ ist dargelegt worden, dass in den vier bekannten Fällen, wo Shakspere seine Unterschrift auf eine Urkunde hätte setzen können, dies kein einziges Mal geschah. Wann immer er bei der Ausfertigung einer Urkunde anwesend war, lautete die Beglaubigungsformel am Ende der Urkunde „set their seals“; von „set their hands“, von einer Beglaubigung durch Unterschrift zusätzlich zur Anbringung des Siegels ist nicht die Rede.[2] Wenn wie bei den Blackfriars-Urkunden sein Name erscheint, erscheint er nicht auf der Urkunde, sondern auf dem Pergamentstreifen am Siegel, der mit der Urkunde verklebt wurde. Auf diesem Streifen vermerkten die Schreiber häufig den Namen desjenigen, der das Siegel angehängt hatte. Auch die Vertragspartei selbst konnte dort den eigenen Namen vermerken, auch in der Form ihrer Unterschrift. Nur hatte die Unterschrift an der Stelle keine beglaubigende Wirkung, weshalb die entsprechende Klausel „set their hands“ in der Beglaubigungsformel fehlte. Sir Edward Maunde Thompson war 1916 nicht das Ungewöhnliche des Ortes der „Unterschrift“ entgangen. Aus seiner Erklärung spricht eine gewisse Verwunderung: Shakespeare sei dem „Aberglauben“ verfallen, seine Unterschrift innerhalb des engen Pergamentstreifens quetschen zu müssen.[3] Was Thompson zu fragen unterließ, ist: unterlagen die beiden anderen Beteiligten, die Treuhänder William Johnson und John Jackson, dem gleichen Aberglauben? Denn auch ihre Namen erscheinen auf dem Pergamentstreifen, und zwar in der Gestalt einer Unterschrift.

 Man muss versuchen, sich die Situation konkret vor Augen zu rufen. Sie ist leicht absurd. Die Parteien bei den Blackfriars-Transaktionen sind übereingekommen, nur durch Anbringung der Siegel zu beglaubigen („Untersiegelung“) und haben das dem Schreiber mitgeteilt. Dementsprechend trägt der Schreiber auch die abschließende Beglaubigungsklausel ein: „set their seals“. Dann aber setzen William Johnson und John Jackson, die beiden Treuhänder, gleichwohl ihre Unterschrift auf den Pergamentstreifen, wo sie keinerlei Beglaubigungswirkung hat. Zum Zeitpunkt der Blackfriars-Transaktionen, März 1613, war es zwar immer noch so, dass Untersiegelung und nicht die Unterschrift für die Gültigkeit der Urkunde erforderlich war, aber in der Regel wurde durch Untersiegelung und Unterschrift beglaubigt. Warum setzen Johnson und Jackson ihre Unterschrift nicht auf die Urkunde?

Denn fünf Jahre später, im Februar 1618, Shakespeare war seit fast zwei Jahren tot, wird die Treuhandschaft für das Haus im Blackfriars von William Johnson, John Jackson und John Hemmings auf andere übertragen. Wir sehen jetzt exakt die gleichen Unterschriften Johnsons und Jacksons, ebenso die von John Hemmings und allen anderen Parteien, auf der Urkunde, oberhalb des Pergamentstreifens. Entsprechend hat der Schreiber die Beglaubigungsformel gefasst: „set their hands and seals“.

 Man wird deshalb schließen müssen, dass es 1613 Shakespeare von Stratford war, der sich gegen die Beglaubigung durch Unterschrift und somit auch dagegen aussprach, seine Unterschrift leisten zu müssen.

 Zumal sich das gleiche noch einmal beim Testament wiederholte. Hier war es seit mindestens zwanzig Jahren üblich, sowohl durch Unterschrift als durch Anbringung des Siegels zu beglaubigen. Die Testamente von Shakespeares „fellows“ Augustine Phillips, John Hemmings, Henry Condell und von anderen Schauspielern weisen ebenfalls diese Beglaubigungsformel, „set my hand and seal“ auf. Nur der „größte Schriftsteller aller Zeiten“ wollte ursprünglich nur sein Siegel anbringen, nicht jedoch seine Unterschrift leisten.    

 Und was sagt die Schriftstellerin Hilary Martel dazu:

 „It's a tale of snobbery and ignorance, of unhistorical assumptions, of myths about the writing life sometimes fuelled by bestselling authors who ought to know better.“

 Keineswegs, es ist die anhand historisch-technischer Abläufe der Urkundenerstellung und         

-beglaubigung geleisteter Analyse, die bestätigt, was Hilary Martel aus John Aubreys Notiz wegzuzaubern versuchte: Shakespeare geriet in Verlegenheit, wenn er gefragt wurde zu schreiben.

Was auf einmal klar wird…

Es wird jetzt deutlich, warum Vikar Ward wahrscheinlich seine Recherchen einstellte. Es wird klar, weshalb beim Tode Shakespeares in Stratford niemand des großen Dichters gedachte. Weil niemand an ihn als Dichter dachte. Nicht einmal sein Cousin Thomas Greene, der durchaus einen Vers hätte schreiben können, denn er schrieb ein Lobgedicht auf den Dichter Michael Drayton. Es wird auch deutlich, weshalb der Schauspieler Thomas Betterton, der 1709 nach Stratford reiste, um Informationen für die Kurzbiografie, die Nicholas Rowe seiner Ausgabe des Gesamtwerks voranstellen wollte, mit nichts anderem als Trivialitäten aufwarten konnte, so dass Rowe entschuldigend schloss, es sei alles, was er habe erfahren können, und wenn man den Mann kennenlernen wolle, solle man in sein Werk schauen.

 Es wird auch deutlich, weshalb beim Tode Shakespeares im April 1616 in London, wo mindestens die im Testament mit einem Gedächtnisring beschenkten Richard Burbage, John Hemmings und Henry Condell von seinem Tod gewusst haben müssen, nicht einmal ein Werk Shakespeares erscheint, das sein Ableben erwähnt, warum Ben Jonson und Michael Drayton stumm bleiben.

 Und es wird auch deutlich, warum ab 1597, 1598 und 1599 die Steuerbeamten keinen William Shakespeare in der Londoner Pfarrei von St. Helen finden konnten, so er denn dieser William Shakespeare wirklich ist, wofür doch einiges zu sprechen scheint. Ab Februar 1598 wird Shakespeare in allen amtlichen Dokumenten als Bürger von Stratford ausgewiesen, während aus den beiden Dokumenten zu seinem Verbleib in London [im Herbst 1598 Richard Quineys nicht abgeschickter Brief an ihn und die sich auf das Jahr 1604 beziehende Aussage einer Zeugin während des von Stephen Belott gegen seinen Schwiegervater Christopher Mountjoy angestrengten Prozesses] hervorgeht, dass er keinen festen Wohnsitz in London hatte. Wenn man annimmt, dass der Shakespeare, den die Steuerbeamten nicht mehr auffinden konnten, William Shakespeare aus Stratford war, gab dieser demnach seinen festen Wohnsitz in London spätestens 1597 auf, in dem Jahr, da er ein Haus in Stratford kauft, und kurz bevor die ersten Stücke unter dem Namen William Shake-speare erscheinen, und etwa ein Jahr, bevor Francis Meres den bindestrichlosen Namen William Shakespeare mit den Stücken verbindet. Tatsächlich wird er in allen existierenden Dokumenten nach Februar 1598 immer als Bürger von Stratford ausgewiesen.

 In Stratford-on-Avon ging von einem Strohmann, der kaum oder gar nicht seinen Namen schreiben konnte, kaum eine Gefahr aus. Im Gegenteil, es war eher ein Vorteil, denn wer würde sich denn in Stratford danach erkundigen, ob einer, der kaum schreiben konnte,  wirklich der große Dichter William Shakespeare  war! In London lagen die Dinge anders. Ein schreibunkundiger Strohmann, der zugleich Schauspieler war – der heute schwer vorstellbare Fall, dass jemand lesen, aber nicht schreiben konnte, war im 16. Jahrhundert keine Seltenheit[4] –  und regelmäßig in Schauspielerkreisen verkehrte, ein relativ auffälliges Schauspielerdasein führte, hätte wegen seines Bekanntheitsgrades die Zuweisung der Werke an ihn gefährden können. Logischerweise muss man annehmen, dass er, wenn er nach 1598 in London war, den geselligen Zusammenkünften nach Möglichkeit fern blieb.

 Im Herbst 1598 war er in London. In jenem Herbst spielte er auch eine Rolle in Ben Jonsons Stück Every Man in His Humour. In jenem Stück spielte auch Christopher Beeston mit. Von jenem Christopher Beeston könnte die Information stammen, die sein Sohn ca. 1681 John Aubrey gab: „he was not a company keeper & if invited to write, he was in paine.“  Es erscheint dann plausibel, die Einladung zu schreiben auf das Abschreiben der verschiedenen Rollen zu beziehen (denn um die Rollen zu lernen, mussten ja verschiedene Abschriften angefertigt werden).

… und was zu klären bleibt

 Unter diesen Annahmen wäre es allerdings sinnvoller gewesen, wenn er überhaupt nicht mehr in Londoner Schauspielerkreisen aufgetaucht und tunlichst in Stratford geblieben wäre.

 Aber er war nachweislich mindestens noch zweimal in London. Wie gesehen, spielte er Ben Jonson zufolge im Herbst 1598 eine Rolle in seinem  Stück Every Man in His Humour. Dass Jonson ihn an der Spitze der Mitwirkenden aufführt, besagt nichts über die Wichtigkeit der Rolle. Die Mitwirkenden wurden nicht nach der Bedeutung ihrer Rolle, sondern nach der Größe ihres finanziellen Anteils am Schauspielerensemble geordnet. Abgeleitet werden kann daraus nur, dass William Shakespeare von Stratford einer der Hauptanteilseigner des Ensembles der Chamberlain’s Men war. Es gab zwei Kategorien von Anteilseignern: . Inhaber „unbeweglicher Anteile“ und Inhaber  „beweglicher Anteile“. Inhaber unbeweglicher Anteile waren Teilhaber an Theatergrundstücken und -gebäuden,   Inhaber beweglicher Anteile waren Teilhaber von Kostümen, Skripten, Instrumenten usw. für den Spielbetrieb. Sie teilten sich die Einnahmen aus den Vorstellungen und verwiesen aufeinander als „fellows“. Schauspieler wie Burbage, Hemmings, Shakespeare gehörten beiden Kategorien an. Cuthbert, Richard Burbages Bruder, war nur Teilhaber der ersten Kategorie, aber kein „fellow“. Henry Condell war lange Zeit Teilhaber in beiden Kategorien, schied jedoch gegen Ende seines Lebens als Teilhaber der zweiten Kategorie aus. In seinem Testament spricht er von John Hemmings deshalb als „friend“, nicht als „fellow“.

 Warum kam Shakespeare im Herbst 1598 nach London? Und warum 1603? Es sind seine einzigen bekannten längeren Aufenthalte in London. Das dritte Mal war 1614, aber diese Reise nach London stand im Zusammenhang mit Grundstücksgeschäften und dürfte nur von kurzer Dauer gewesen sein.

 Sammeln wir die Fakten, die über ihn 1598 bekannt sind. Erstens spielt er eine Rolle in einem Stück Ben Jonsons. Zweitens hat er keine feste Anschrift in London mehr. Der Brief, den sein ebenfalls in London sich aufhaltender Stratforder Bekannter Richard Quiney, der spätere Schwiegervater seiner Tochter Judith, im Oktober 1598 schreibt, erwähnt keine Anschrift, nur die Bitte, man möge den Brief seinem Landsmann Shakespeare überreichen. Dazu kommt es nicht, weil, wie aus einem am gleichen Tag von  Quiney an seinen Geschäftspartner Abraham Sturley in Stratford geschriebenen Brief hervorgeht, Quine Shakespeare persönlich getroffen hat. Der Brief wird später denn auch in Quineys Korrespondenz gefunden. Drittens war seine Anwesenheit als Teilhaber in London notwendig. Die Verhandlungen über den Erwerb des Globe-Theaters dürften im Herbst 1598 im Gange gewesen sein und vor dem Abschluss gestanden haben. Zum Abschluss gebracht wurden sie im Februar 1599. In diesem Zeitraum musste Shakespeare in London sein.

 Sammeln wir nun die bekannten Fakten für die Zeit vom Mai 1603 bis zu einem unbekannten Zeitpunkt im Jahr 1604. Wir erhalten ein ähnliches Bild wie für 1598-99. Shakespeare wird von Ben Jonson als Mitwirkender in seinem Stück Sejanus erwähnt. Jonson datiert die Urauffuhrung auf das Jahr 1603. Da die Theater wegen einer heftigen Pestepidemie seit dem Sommer 1603 und bis zum Frühsommer 1604 geschlossen bleiben, kann es sich nur um eine Aufführung bei Hofe gehandelt haben. Jonson schreibt aber diesmal nicht wie 1598 „Will. Shakespeare“, sondern „Will. Shake-Speare“. Der Bindestrich hat wahrscheinlich seine Bedeutung. Bei Hofe konnte auch ein Adeliger auf der Bühne auftreten. Nicht das Schauspielen an sich galt für einen Adeligen als verpönt, sondern der Auftritt als Schauspieler in der Öffentlichkeit. Wiederum erweist sich, dass Shakespeare keinen festen Wohnsitz in London hat. Er ist in dieser Zeit beim Perückenmacher Mountjoy einquartiert. Als Teilhaber ist seine Anwesenheit im Mai 1603 erforderlich. Die Chamberlain’s Men erhalten am 19. Mai ihre neue Lizenz und nennen sich fortan King’s Men, Diener des Königs. Formal sind sie Diener im königlichen Haushalt, stehen also faktisch nach wie vor unter der Aufsicht des Lordkämmerers. Als Diener des Königs muss Shakespeare auch an der Krönungsprozession Jakobs I.  teilnehmen. Wegen der Pest wird diese Prozession bis März 1604 verschoben. Folglich ist seine Präsenz in London mindestens von Mai 1603 bis März 1604 erforderlich.

 Es gibt allerdings Gründe zur Annahme, dass Shakespeare nicht der wirkliche Teilhaber war, oder genauer, was im nächsten Abschnitt erklärt wird, nur partiell der wirkliche Teilhaber war.

 Der erste Grund mag noch eher suggestiv genannt werden. Die Art wie in der Foliausgabe von ihm die Rede ist lässt vermuten, dass ihn Hemmings und Condell als höher im Stand als sich selbst betrachteten: „only to keep the memory of so worthy a Friend & Fellow alive, as was our SHAKESPEARE“. Man sage nun nicht, Shakespeare sei ja ein „gentleman“ gewesen. Das waren Hemmings und Condell ebenso. Suggeriert wird, dass Hemmings und Condell Shakespeare eine höhere Würde als sich selbst zuerkennen.

 In den Testamenten der Schauspieler (Augustine Phillips, John Hemmings, John Underwood, John Shank) ist von „fellows“ immer nur im Zusammenhang mit den beweglichen Anteilen die Rede. Sehr deutlich wird das aus John Shanks Testament im Dezember 1635. John Shank hatte von William Hemmings die Anteile seines Vaters John erworben. Solche Anteile wurden vererbt. John Shank lag im Streit mit seinen Fellows. Verständlich, dass er auf den frommen Brauch verzichtet, den „fellows“ eine gewisse Summe zum Kauf eines Erinnerungsringes an ihn zu vermachen. Im Gegenteil, er warnt sie: „And I doe desire my fellowes his Maiesties servantes the players that they doe not abridge my said wife and Executrix in what is due unto me... for my share in the stocke bookes apparell and other thinges according to the old Custome, and agreament between us.“ [„und ich verlange, daß meine „fellows“, die Diener Seiner Majestät, die Schauspieler, meine Frau und Vollstreckerin, nicht um einen Teil dessen prellen, was mir zusteht... aufgrund meines Anteils an den Repertoireskripten, Kleidung und sonstigen Gegenständen, gemäß dem alten Brauch und der Vereinbarung zwischen uns.“]. Die Anteile von Augustine Phillips gehen zunächst auf seine Frau über, John Hemmings’ Anteile auf seinen Sohn William, John Underwoods Anteile auf seine Kinder. Shakespeares Testament bildet hier wieder die Ausnahme. Es ist in seinem Testament von Anteilen nicht die Rede. Man muss annehmen, dass er 1616 keine Anteile mehr besaß. Aber zugleich zollt er dem frommen Brauch Tribut, seinen „fellows“ Burbage, Hemmings und Condell eine Summe zu vermachen, um einen Erinnerungsring zu kaufen. In der ursprünglichen Fassung hatte er das allerdings vergessen, was nicht gerade auf immer noch enge Beziehungen zu seinen „fellows“ hindeutet. Außerdem nennt er sie seine „fellows“. Es fragt sich: wo sind denn die Anteile?

 Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir annehmen, dass er nicht der wirkliche Besitzer der Anteile, dass er vielmehr „Strohmann“ für den wahren Besitzer der Anteile war. Und dann hätten wir auch eine Antwort auf die Frage, weshalb Shakespeare, obwohl als Strohmann ungeeignet, doch gelegentlich in London zu erscheinen hatte.

Der Teilhaberpart ist als Erklärung unzureichend

  Kehren wir noch einmal zu den Blackfriars-Urkunden zurück. Nebst Shakespeare hatten dort auch die beiden Treuhänder William Johnson und John Jackson durch Anbringung ihres Siegels beglaubigt. Vor dem Common Law waren die beiden Treuhänder aufgrund des Statuts Quia Emptores (1290) die legalen Eigentümer des Hauses im Blackfriars-Viertel. Auch wenn sie nur Eigentümer als Treuhänder Shakespeares waren, „to the use of Shakespeare“, wie die sehr gängige Formel hieß. Es gab ja in England ein doppeltes Rechtssystem, Common Law und Equity, und damit auch ein doppeltes gesetzliches Eigentumssystem. Wäre irgendein Prozess im Zusammenhang mit dem Blackfriars-Haus vor ein Common-Law-Gericht (Queen’s oder King’s Bench, Common Pleas, Court of the Exchequer) ausgetragen worden, Shakespeare hätte selbst als Eigentümer nicht erscheinen können. Johnson, Jackson und Hemmings hätten für ihn erscheinen müssen. Und dies, obwohl Shakespeare der materielle Eigentümer und Jackson, Johnson und Hemmings nur die nominellen Eigentümer waren. Vor einem Equity-Gericht (Chancery, Star Chamber, Court of Request) wäre Shakespeare selbst erschienen. Es ist noch, dass ein „Use“, ein Treuhandverhältnis nicht einmal der schriftlichen Festlegung bedurfte, um von einem Equity-Gericht anerkannt zu werden, eine mündliche Vereinbarung reichte aus, wenn sich das Verhältnis aus den Tatsachen belegen ließ.

 Man kann das Verhältnis zwischen einerseits Jackson, Johnson und Hemmings und anderererseits Shakespeare auch so ausdrücken, dass erstere die nominellen Eigentümer oder „nominees“ waren und Shakespeare der materielle Eigentümer. Ein solches Verhältnis gab es auch unter den Teilhabern am 1608 bezogenen Blackfriars-Theater. Die ursprünglichen Teilhaber waren Richard und Cuthbert Burbage, William Shakespeare, John Hemmings, Henry Condell, William Sly und Thomas Evans. Thomas Evans ist eine sehr obskure Person; es ist von ihm weiter nichts bekannt. Chambers hält ihn für einen Strohmann oder, wie er richtigerweise schreibt, einen nominellen Eigentümer für den materiellen Eigentümer Henry Evans. „As part of his consideration, Evans, through a nominee, was admitted by Burbadge into a new syndicate, of which the other members were Burbadge himself and his brother Cuthbert, and some of the leading players of the King’s company, by whom it was intended that the Blackfriars should now be used.“[5] [„Als Teil seiner Einlage wurde Evans über einen nominellen Eigentümer in eine neue Partnerschaft aufgenommen, deren andere Teilhaber Burbage selbst und sein Bruder Cuthbert sowie einige der führenden Schauspieler der King’s Men waren, die jetzt beabsichtigten, Blackfriars zu benutzen.“]. Nach dem Common Law war Thomas Evans dennoch der legale Eigentümer, nach der Equity-Rechtsprechung war es Henry Evans.

 Henry Evans war spätestens seit 1583 mit dem Blackfriars-Theater verbunden und hatte gemeinsam mit John Lyly im Dienst des Grafen von Oxford gestanden.  (siehe Anhang 4 „Die Londoner Theater in Shakespeares Zeit“). „Zweifellos arbeiteten Hunnis, Lyly und Evans alle gemeinsam unter der Schirmherrschaft des Earl of Oxford, denn ein Oxford's Boys genanntes Ensemble spielte bei Hofe unter Lylys Leitung im Winter 1584-4 und unter Evans' Leitung im Winter 1584-5.“[6] 1584 muss das Blackfriars-Kinderensemble das Theater räumen, spielt jedoch weiter unter dem Namen Children of Paul’s. Dieses wird 1589 aufgelöst. Zusammen mit Nathaniel Giles nimmt Henry Evans 1600 den Spielbetrieb eines Kindersensembles im  Blackfriars-Theater, das er von den Burbage-Brüdern mietete, wieder auf. Henry Evans hielt sich seit 1601, als er wegen einer nicht ganz legalen Anwerbung eines Chorknaben gemeinsam mit Nathaniel Giles vom Vater des Jungen verklagt worden war, im Hintergrund, während Giles ausschied. „Evans setzte als Teilhaber an seiner Stelle seinen Schwiegersohn ein und gewann drei neue Kapitalgeber.“[7] Er blieb jedoch die treibende Kraft des Ensembles. 1606 gewann er einen weiteren Kapitalgeber hinzu, Robert Keysar, einen Londoner Goldschmied mit Ambitionen im Theatergeschäft. Aber am 9. August überlässt Evans das Theater wieder den Burbage-Brüdern. Robert Keysar fühlt sich um seinen Anteil geprellt und verklagt 1610 die Burbage-Brüder. William Sly ist inzwischen gestorben. 1610 hat sich die Zahl der Teilhaber am Blackfriars um 1 auf 6 reduziert. Der Einfachheit halber werden sie noch einmal aufgelistet. Cuthbert Burbage, Richard Burbage, William Shakespeare, John Hemmings, Henry Condell und Thomas Evans. Der Theaterinsider Keysar erwähnt sie nicht alle, sondern klagt gegen „Richard Burbage, Cuthbert Burbage, John Heminges, Henrye Condell and others“, gegen die vier Genannten und … „sonstige“. Der eine Sonstige ist Thomas Evans, von dem nichts bekannt ist, außer dass er wahrscheinlich Henry Evans' Verwandter und „nominee“ ist, den der Theaterinsider Robert Keysar entweder nicht kannte oder für unerheblich hielt, der zweite und letzte unter „anderen“ ist der große Schriftsteller, der angesehene Teilhaber, der Theatermensch in Herz und Nieren William Shakespeare, den Keysar auf die gleiche Sonstigkeit herabstuft wie den ungreifbaren Thomas Evans.

 Wenn Edward de Vere der wirkliche Teilhaber war, dann brauchte er wie Henry Evans einen „nominee“. Als Graf konnte er es sich nicht erlauben, offen Einnahmen aus einem kommerziellen Schauspielbetrieb zu beziehen. Henry Evans brauchte einen „nominee“, weil er mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, Edward de Vere brauchte ihn, weil eine offene Beteiligung an einem kommerziellen Theaterensemble ihn mit den ungeschriebenen Standesgesetzen in Konflikt gebracht hätte. Eine „offene“ wohlgemerkt. Viele nach außen hin verpönte und radikal verurteilte Verhaltensweisen war den Mitgliedern der aristokratischen Elite erlaubt: Duell, wilde Ehe, Homosexualität, gewerbliche Einnahmen, solange sie es vor der Öffentlichkeit verschleierten. Das markanteste Beispiel ist Jakob I. selbst. Seine Homosexualität war kaum ein Geheimnis, obwohl Homosexualität als Schwerverbrechen verurteilt wurde, auch von Jakob I. selbst. Was Jakob I. nicht wagen konnte, war, sich in der Öffentlichkeit jenseits des kleinen Machtzirkels als Homosexueller zu outen.

 Es erklärt dies zwar, warum William Shakespeare als nomineller Eigentümer aus gewissen Anlässen nach London reisen musste. Wir können aber nicht behaupten, geklärt zu haben, wieso es ausgerechnet William Shakespeare aus Stratford sein musste. Fast jeder andere hätte diese Funktion übernehmen können. Und es sei noch einmal betont: Es ist unter dem Gesichtspunkt der Teilhaberschaft nicht richtig, von einem „Strohmann“ zu sprechen. Unter den geschilderten Verhältnissen war Shakespeare der nominelle, aber legale Inhaber der Anteile, nur nicht der materielle Eigentümer.

Der Schriftsteller

 Einer der produktivsten Dichter des späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts war Ignoto. Fügt man A.W („Anonymous Writer“) und „Anon“ hinzu, so kommt man auf ein umfassendes Oeuvre beachtlicher poetischer Qualität. Hinter diesen die Anonymität ausdrückenden Namen oder Initialen verbergen sich diverse Dichter. Wir wissen bis heute nicht, wer sie sind, und können es bestenfalls aus dem Stil erkennen. Die Zeitgenossen dürften es besser als wir gewusst haben, wenn auch längst nicht immer genau. Anonymität und Pseudonyme wurden respektiert. Francis Meres nennt in seinem „Comparative Discourse“ die Namen Marston und Guilpin nicht, obwohl die Autoren zwei der Hauptbeteiligten an Druck und Verlegung des Commonplace-Book-Projekt Wit’s Commonwealth, dem Verleger Nicholas Ling und dem Drucker James Roberts,  bekannt gewesen sein müssen. Auch der Verfasser von The Arte of English Poesie und William Webbe in seinem Discourse of English Poetry respektieren Edmund Spensers Pseudonym Immerito.

 Ignoto ist von besonderem Interesse.

 Die beiden Liedertexte „My flocks feed not, my ewes breed no“ und „As it fell upon a day”

erscheinen erstmals 1598 in einem Gedichtband von Richard Barnfield. Letzteres erinnert in Titel und Stil auffällig an das Lied „On a day alack the day“ in Shakespeares Stück Love's Labour's Lost, das 1598 erschien als „by W. Shakespere“ (ohne „a). 1599 erscheinen sie abermals, diesmal in dem Gedichtband Der Verliebte Pilger, der William Shakespeare zugeschrieben wird. Auch Shakespeare's Lied aus Love's Labour's Lost ist dort abgedruckt, als Nummer 2 unter dem Untertitel „Sonnets to Sundry notes of Music“. Die beiden anderen tragen die Nummern 3 und 6. Nur ein Jahr später erscheint Shakespeares Liedertext abermals in dem Gedichtband England's Helicon. Und zwar gemeinsam mit diesen beiden anderen, ohne Numerierung. Numeriert man die Gedichte, sind es die Nummern 34, 35 und 36. Unter dem Gedicht 34, das in Love's Labour's Lost zwei Jahre zuvor erschienen war, steht der Name „W. Shakespeare“, unter den Gedichten 35 und 36 der Name „Ignoto“. Das Gedicht (der Liedertext) 36 in England's Helicon ist kürzer und stilistisch reiner: ein poetisches Anhängsel in der Version, die unter Barnfields Namen und auch im Verliebten Pilgrim erschienen ist, wurde weggelassen. So als hätte der Autor, Ignoto, selber eingegriffen. Ein qualitativer Unterschied zwischen „On a day alack the day“  aus Love's Labour's Lost und „As it fell upon a day” ist nicht festzustellen.

 Wir stellen uns nun die Frage, was geschehen wäre, wenn Venus und Adonis und Lucrezias Schändung unter dem Pseudonym Ignoto veröffentlicht worden wären. Oder was, wenn der Verfasser nur das Pseudonym William Shakespeare verwendet hätte, ohne die Anwesenheit eines leibhaftigen William Shakespeare? Vermutlich wäre - ironischerweise - das geschehen, was auch William Shakespeare einige Male geschah: sein Name wäre als Pseudonym aufgefasst worden. 1620 gibt Thomas Vicars sein Rhetorikhandbuch Cheiragogia heraus. In der zweiten Auflage (1624) erwähnt er dann vier namhafte englische Dichter: Geoffrey Chaucer, Edmund Spenser, Michael Drayton und George Wither. Shakespeares Name fehlt. In der dritten Ausgabe (1628) ergänzt er seine Liste: „To these I believe should be added that famous poet who takes his name from „shaking” and „spear”,  John Davies, and my namesake, the pious and learned poet John Vicars.” Während er alle anderen bei ihrem Namen nennt, umschreibt er William Shakespeare als „den berühmten Dichter, der seinen Namen von ‚schütteln' und ‚Speer' hernimmt”. Zwischen 1643 und 1661 gibt der anglikanische Bischof und Historiker Thomas Fuller seine Worthies heraus, ein Kompendium englischer Berühmtheiten. Geburts- und Todesjahr Shakespeares kann er nicht angeben. Er bemerkt, dass sich in Shakespeare drei klassissche Schriftsteller zu vereinigen scheinen: Ovid, Plautus und „Martial in the warlike sound of his surname (whence some may conjecture him of military extraction,) Hasti-vibrans, or Shake-speare.” Shakespeare erinnere auch an Martial durch den kriegerischen Klang seines Namens (weshalb einige vermuten könnten, er stamme aus einer Familie von Kriegern), „hasti vibrans“ oder „Shake-speare“.

 „Martin Marprelate“, auch „Martin Mar-prelate“ geschrieben war ein sinniges Pseudonym für einen Pamphletisten, der über die Prälaten, die Bischöfe der anglikanischen Kirche herzog.  „William Shakespeare“ oder „William Shake-speare“ war ein sinniges Pseudonym für einen Hofmann.

Der Name William Shakespeare als Signifikant

 Von der Biografie des Chrétien de Troyes (zweite Hälfte des 12. Jahrunderts) ist überhaupt nichts bekannt, außer dass er aus der Stadt Troyes im Nordosten Frankreichs stammt. So sagt man zumindest. So scheint er selber unmissverständlich geschrieben zu haben.Vielleicht war er aus Troyes, vielleicht war es nur ein Wortspiel, vielleicht beides. Es gibt gute Gründe für die Annahme, der Name sei ein Pseudonym. Und obwohl wir von ihm nichts anderes als den Namen wissen: redeten wir lange genug über ihn, es dauerte nicht allzu lange, bis aus Chrétien Christian und aus Christian Chris würde, „unser Chris“. Und  Chris wäre auch bald „in der Welt“, „uncontestable Chris“.

 In seinem ersten höfischen Roman Erec et Énide eröffnet uns Chrétien de Troyes sein literarisches Programm: das rauhe, kriegerische okzidentale Ritterideal durch die höhere orientalische Zivilisation verfeinern. Das Programm ist bereits im Titel enthalten. Erec ist der nach Ruhm auf dem Feld der Ehre strebende Ritter, Erec ist ein germanischer Name, Énide ist ein von Aeneas, dem trojanischen Gründer Roms, abgeleiteter Frauenname. Aus dem kriegerischen Erec soll seine Dame Énide einen sittenveredelten Ritter machen. Auf der allegorischen Ebene kann man den Roman als eine Initiation zur Verhöflichung lesen. Aber auch der Name Chrétien de Troyes selbst steht für dieses Programm. Troyes, die französische Stadt, und Troie, Troja, sind im Französischen Homonyme. Statt als Christian von Troyes ist man auch berechtigt, ihn als „Christ von Troja“ zu lesen. Es wäre ein großer Zufall, dass jemand exakt mit dem Namen geboren wäre, der genau die Berufung ausdrückt, der er sich verschrieben hat. Der Name Chrétien de Troyes ist ein Signifikant.

 Der Name William Shakespeare kann auch als Signifikant gelesen werden, als ironisches Pseudonym für einen Hofmann, dessen wichtigste Beschäftigung das Waffenhandwerk sein soll, der jedoch in Wirklichkeit mehr der Bildung, der Kunst zugetan war. Thomas Nashe lobt deshalb Sir Philip Sidney im Vorwort zur ersten Ausgabe (1591) des Gedichtbands Astrophel and Stella, wo er sich an Sidneys Schwester, die Gräfin von Pembroke, wendet: „most rare Countess of Pembroke, thou art not to be omitted; whom artes doe adore as a second Minerva, and our Poets extoll as the Patronesse of their invention; for in thee the Lesbian Sappho with her lirick Harpe is disgraced, & the Laurel Garland which thy brother so bravely advaunst on his Launce, is still kept greene in the Temple of Pallas.[8] [„Außerordentlichste Gräfin von Pembroke, Ihr dürft nicht unerwähnt bleiben, Ihr, die von den Künstlern als eine zweite Minerva bewundert werdet und die unsere Dichter als die Schutzherrin ihrer Schöpfungen preisen; denn in Euch ist die lyrische Harfe der Sappho aus Lesbos entzaubert und bleibt der Lorbeerkranz, den Euer Bruder so tapfer auf der Spitze seiner Lanze trug, immergrün aufbewahrt im Tempel der Pallas.“] Ähnlich lobt Ben Jonson… Shakespeare: „ In his well torned, and true filed lines:/ In each of which, he seemes to shake a Lance,/As brandish’t at the eyes of Ignorance.“[9]  Man sollte vielleicht darauf hinweisen, dass George Chapman in Akt III, Szene 4, Zeilen 95-115 seines Stückes The Revenge of Bussy D’Ambois den Grafen von Oxford aus ähnlichen Gründen lobt.

 In Baldesar Castigliones Das Buch vom Hofmann wird mehrfach die Frage erörtert, ob Waffen oder Wissenschaften der Vorrang gebührt. Vorrangig soll das Waffenhandwerk sein, aber daneben soll er allerdings auch möglichst vielseitig in den „Wissenschaften“ ausgebildet sein, was man heute eher als „Künste“, „arts“ zu verstehen hat. „Außer der Güte aber, meine ich, sind der wahre und hauptsächliche Schmuck des Herzens bei jedem die Wissenschaften, obgleich die Franzosen nur den Adel der Waffen kennen und alles übrige für nichts achten, so daß sie die Wissenschaften nicht allein nicht schätzen, sondern verabscheuen und alle gelehrten Menschen für höchst niedrige Personen halten; und es erscheint ihnen als ein großer Schimpf, wenn man, wer es auch sei, « clerc » genannt wird.“[10] Der französische Adel hielt es also im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts wie der englische Gentleman, der seinen Sohn lieber gehängt als gelehrt sähe (siehe Kapitel 13). Doch so sehr er auch glänzen möge in den Künsten, er soll das ihm dafür gespendete Lob wenn nicht zurückweisen, so doch relativieren. „Um nicht zu irren, stimme er im Gegenteil, auch wenn er das ihm gespendete Lob als wahr erkennt, diesem nicht offen zu und bestätige es nicht ohne Widerspruch, sondern leugne es weit eher bescheiden ab, indem er immer auf das Waffenhandwerk als auf seinen hauptsächlichen Beruf hinweist und dieses auch tatsächlich dafür hält und alle anderen guten Eigenschaften nur als dessen Zierde betrachtet.“[11] Shakespeare hat diese höfische Bescheidenheit in Viel Lärm und Nichts, II.2, in der Person des Sängers, der wohl nicht zufällig Balthasar heißt, in unvergleichlich verdichteter Weise ironisiert: „Note this before my notes;/There’s not a note of mine that’s worth the noting“. [„Notiert dies vor meinen Noten/ Keine Note von mir ist’s wert, notiert zu werden.“] Der Humanist Pietro Bembo erhebt Einspruch: „Ich verstehe nicht… wie Ihr wünschen könnt, daß dieser Hofmann, wenn er Gelehrter und mit so vielen anderen tugendhaften Eigenschaften begabt ist, alles als Zierde des Waffenhandwerks und nicht das Waffenhandwerk und das übrige als Zierde der Wissenschaften betrachtet, die den Waffen ohne andere Begleitung an Würde so sehr überlegen sind wie das Herz dem Körper…“[12]

 Wann immer in der Literatur der zweiten Hälfte des sechzehnten oder der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts Kunst, Bildung oder, wie Castiglione es nennt, Wissenschaften in Verbindung treten zu Schwert, Lanze oder Speer, kann man schließen, dass ein Aristokrat angeredet wird oder von ihm die Rede ist. Wie zum Beispiel in der Ansprache des Gelehrten Gabriel Harvey an den Earl of Oxford 1578 in Audley End, wenn er Oxford auffordert, die unbedeutende Feder wegzuwerfen und zu der Waffe zu greifen, denn  „vultus tela vibrat“.[13]  Kurt Kreiler übersetzt: „Eure Miene schleudert Lanzen“.[14] Andere haben vorgeschlagen: „Eure Miene schüttelt Speere.“ Man kann darüber streiten, wie „telus“ zu übersetzen sei, man hätte dann einen Streit, der im Französischen als querelle allemande bezeichnet wird, viel Lärm um wenig. Erst der breitere Kontext stiftet die Relevanz, und dieser breitere Kontext ist die Frage, ob Waffenhandwerk oder Bildung wichtiger sei. Für einen Aristokraten seien Waffen wichtig, während die Feder völlig unwichtig sei, schreibt der Gelehrte Gabriel Harvey, der damit als Gelehrter merkwürdigerweise die Position des miles gloriosus bezieht, der im Buch vom Hofmann[15]verhöhnt wird. Harvey verhält sich wie Don Armado, der martialische Rhetoriker, für den Gabriel Harvey  in Shakespeares Love’s Labour’s Lost  ja auch Modell gestanden hat. „Telus“ bedeutet auf jeden Fall eine „Wurfwaffe“ und im Kontext der Frage der Priorität zwischen Waffen oder Bildung war das entweder Lanze oder Speer. „Lanze und Lorbeer“, wie Nashe von Sir Philip Sidney sagt. Oder wie mit einer Lanze gegen die Ungebildetheit, die Ignoranz zu kämpfen, wie Ben Jonson von Shakespeare sagt. 

 Blicken wir auf das Bisherige zurück, bietet sich die Lage doch recht vertrackt dar. Wir haben einen Hofmann, für den William Shakespeare oder Shake-speare ein sinnvolles Pseudonym ist und dass er auch autonom, ohne eine Person namens William Shakespeare hätte verwenden können. Venus und Adonis erscheint 1593,  Lukrezias Schändung 1594 mit Widmungen an den Grafen von Southampton, an deren Ende der Name William Shakespeare, ohne Bindestrich steht (obwohl Shapiro einen gesehen haben will). Kurz danach, noch im Jahr 1594, erscheint Willobie his Avisa, ein im Stile von Lukrezias Schändung geschriebenes langes Gedicht. In einem begleitenden Lobvers wird auf die Nachahmung auch angespielt: „And Shake-speare, paints poore Lucrece rape.“ Der Verfasser schreibt den Namen trotzdem mit Bindestrich. Shapiro hat den Bindestrich mit typographischen Schwierigkeiten zu erklären versucht, doch diese Theorie bricht mit dem ersten Durchzug wie ein Kartenhäuschen zusammen, wenn man die Tür zur Beispielkammer auch nur einen Spalt weit öffnet. Plausibler ist, dass der Verfasser dieses Lobverses Shake-speare für ein Pseudonym hielt und zumindest eine Ahnung hatte, wer sich dahinter verbarg. Es muss noch einmal betont werden: Anonymität wurde respektiert. Der Hofmann hätte weiter unter dem Namen Shakespeare oder Shake-speare schreiben können.

 Warum brauchte er dann einen Strohmann aus Fleisch und Blut gleichen Namens?  Um die Tarnung wirklicher und effektiver zu gestalten? Das kann unmöglich die richtige Antwort sein. Warum ausgerechnet einen William Shakespeare, von dem man auf der Grundlage konkreter Informationen weiß, dass er keinen Speer schwang, dass bestenfalls die Feder in seiner Hand heftig schwankte?

Es bleibt nur noch:

Der Schauspieler

  In seinem Epigramm teilt uns John Davies of Hereford mit, dass Shakespeare ein Hofmann war, der vom Hofe verbannt wurde, weil er „im Spaß königliche Rollen gespielt“ hatte (Kapitel 19). In seiner „apology“ bestätigt uns dies Henry Chettle indirekt.Wer vom Hof verbannt war, gehörte zwar dem Titel nach weiter zur aristokratischen Oberschicht, war aber faktisch von ihr ausgeschlossen. „Verbannt vom Hof?“, lässt Ben Jonson den Dichter Ovid in seinem Bühnenstück Poetaster klagen, „lasst mich aus dem Leben verbannt sein, denn dort liegt das Hauptziel des Lebens beschlossen: Innerhalb des Hofes ist das ganze Königreich gefasst, und seine heilige Sphäre enthält zehntausend Mal mehr als jeder andere Ort im Kaiserreich.“[16] Es war keine dramatische Überhöhung Ben Jonsons.

 Galt der Ausschluss auf immer? Ein Aristokrat wurde nie für immer ausgestoßen. War er gezwungen, durch eine gewerbliche Tätigkeit seinen Lebensunterhalt zu sichern, galt er solange als nicht mehr zur Aristokratie gehörig, als er gewerblich tätig blieb. Nicht einmal bei Kapitalverbrechen wie Hochverrat war der Ausschluss unwiderruflich. Zwar galt das Blut des adeligen Hochverräters als „corrupted“ oder „stained“, als „verschmutzt“, so dass auch seine Erben Titel und Besitz verloren, aber in der Regel wurden die Sanktionen in der nächsten Generation wieder aufgehoben. So verlor Richard Plantagenet wegen des Hochverrats seines Vaters alle Titel und Besitzungen, wurde aber von Heinrich VI. in den Titel eines Herzogs von York wiedereingesetzt.

 Von John Davies existiert noch eine andere Anspielung auf W.S. und R.B. W.S. ist wohl William Shakespeare, R.B. ist Richard Burbage. Die folgende Zeile dürfte sich aber wohl ausschließlich auf Shakespeare beziehen und weist in die gleiche Richtung wie sein Epigramm: „And though the stage doth staine pure gentle bloud“,[17] „obwohl die Bühne reines adeliges Blut verschmutzt“.

 Für den Erben eines adeligen Hochverräters gab es keine andere Möglichkeit, als zu warten, bis er wieder in seine Rechte eingesetzt wurde. Für einen Adeligen, der für seinen Lebensunterhalt gezwungen war, einer gewerblichen Tätigkeit nachzugehen, gab es noch einen anderen Weg, als einfach zu warten, bis er nicht mehr auf eine solche Tätigkeit angewiesen war. Er konnte den Schein erwecken, dass er diese Tätigkeit nicht mehr ausübte, indem er sie stellvertretend für sich einen Gemeinen ausüben ließ. In einer höfischen Gesellschaft, in der es mehr auf den Schein als Sein ankam, hätte dies als respektabel und akzeptabel gegolten.

 In der höfischen Gesellschaft, stellte der französische Moralist Philibert de Viennes 1547 fest, sind Abweichungen vom vorgeschriebenen Verhalten durchaus gestattet, wenn sie nur „verstellt oder maskiert“ sind..[18] „Verstellung“ ist eine der wichtigsten Tugenden des Hofmannes, befand Tasso in seinem Dialog über den Hof.[19] Ähnlich äußert sich der anonyme Verfasser von The Arte of English Poesie (1589): Verstellung sei wichtig bei Hofe, die Allegorie (wortwörtlich das Anders-Sagen oder etwas sagen und etwas Anderes meinen, die Stilfigur par excellence des Hofmannes.[20] Und Philibert de Viennes wiederum diagnostizierte, es komme mehr auf „vérisimilitude" an denn auf „vérité", mehr auf „Wahrschein" oder „Wahrheitsähnlichkeit" als auf Wahrheit („denn es ist nicht unsere Art, die Dinge aus solcher Nähe zu betrachten“).[21]

 Wenn Shakespeare, wie John Davies of Hereford uns mitteilt, wenn dieser Hofmann vom Hofe verbannt wurde, weil er in der Öffentlichkeit als Schauspieler aufgetreten war, wenn Henry Chettle („exellent in the quality he professes“) dies bestätigt, so hatte dieser Hofmann vor der Öffentlichkeit von sich selbst bereits das Bild eines Schauspielers erworben; um die Verbannung rückgängig zu machen, musste er sich von diesem Erscheinungsbild distanzieren, das Schauspielen in der Öffentlichkeit einstellen und an seine Stelle einen anderen treten lassen, weniger als Strohmann denn als eine gesellschaftliche Maske, einen anderen, auf den zugleich die Rolle des Schriftstellers, des Teilhabers und vor allem des Schauspielers übertragen wurde. Darauf, dass der Andere diese Rolle nicht wirklich auszufüllen im Stande war, kam es weniger an als darauf, dass sich Oxford dadurch von dieser Rolle nach außen hin distanzierte.

 Wie das in der höfischen Gesellschaft funktionierte, hat Shakespeare selbst in Wie es euch gefällt treffend beschrieben, als er in Akt V, Szene 1 Touchstone (Probstein) zum Landlümmel William sagen lässt: „So lerne dies von mir: Haben ist haben, denn es ist eine Figur der Redekunst, daß Getränk, wenn es aus einem Becher in ein Glas geschüttet wird, eines leer macht, indem es das andere ausfüllt; denn alle unsre Schriftsteller geben zu: ipse ist „er selbst“; Ihr seid aber nicht ipse, denn ich bin „er“.“

Ist es nicht bemerkenswert, dass in V.1 des zweiten Teils von Henry IV unvermittelt und scheinbar zusammenhanglos abermals von einer Maske, von „visor“ geredet wird und dieser Visor mit Vornamen wieder William heißt, über den man sonst überhaupt nichts erfährt? Dieser „William Visor of Woncot“ ist ein „arrant knave“, ein „ausgemachter Schelm“. Sollte vielleicht „Wilmcote“ gemeint sein? Dorther stammte Mary Arden, die Mutter des Mannes aus Stratford.

Warum, wie und wann kam Shakespeare aus Stratford ins Spiel?[22]

 Warum? Er hatte ungefähr den richtigen Namen zum passenden Pseudonym. Um den Schein aufrecht zu erhalten, hatte er auf jeden Fall eine Zeitlang als Schauspieler aufzutreten. Er taucht plötzlich, ja urplötzlich im Ensemble der Lord Chamberlain’s Men auf. Das erste Mal wird er Ende Dezember 1594 gemeinsam mit William Kempe und Richard Burbage als Zahlungsempfänger erwähnt. Es ist auch das letzte Mal. Dann spielt er im Herbst 1598 in einem Stück Ben Jonsons mit, aber zu diesem Zeitpunkt hat er seinen Wohnsitz bereits in Stratford.

Wie kam er ins Spiel? Hier scheint die Erklärung zum Greifen nahe zu liegen. Richard Field, der Drucker von Venus and Adonis und The Rape of Lucrece stammte aus Stratford.

Nach 1604 ist kein längerer Aufenthalt Shakespeares aus Stratford in London mehr nachweisbar. Die Schauspieler-Maske wurde nicht mehr gebraucht.

© Robert Detobel 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



[1] Chambers, E.K., William Shakespeare – A Study of Facts and Problems, 2 Bde., Oxford 1930, Bd. I, S. 250.

[2] Bei „Siegel“ dürfte sich heute zunächst die Vorstellung des „Versiegelns“ in den Vordergrund drängen. Es handelt sich jedoch um „Untersiegeln“. Zur Beglaubigung wurde ein Siegel an die Urkunde gehängt oder auf der Urkunde aufgedrückt; das Siegel wurde damals wie heute der Stempel verwendet.

[3] Thompson, Sir Edward Maunde, Shakespeare’s Handwriting: A Study, Oxford, 1916, S. 6.

[4] Jenkinson, Hilary, Sir. Selected Writings. Gloucester, 1989, S. 150-1.

[5] Chambers, E.K., The Elizabethan Stage, 4 Bde., Oxford, 1923, Bd. I, S. 509

[6] Ebenda, Bd. I., S. 497.

[7] Gurr, Andrew, The Shakespearian Playing Companies, Oxford 1996, S. 348.

[8] The Works of Thomas Nashe, edited by Ronald B. McKerrow, 5 vol. Reprinted from the original edition with corrections and supplementary notes. Edited by F.P. Wilson, Oxford 1958,  Bd. III, S. 331.

[9] „In seinen gut gemeißelten und wahrlich geschliffenen Zeilen/In jeder von denen er eine Lanze zu  schütteln scheint/ Gezielt auf die Augen der Ignoranz.“

[10] Castiglione, Baldesar, Das Buch vom Hofmann, übersetzt und erläutert von Fritz Baumgart, München 1986,  Buch I.xlii

[11] Ebenda, I.xliv.

[12] Ebenda, I.xlv.

[13] Harvey, G., Gratulationis Valdinensis, Liber Quartus, London 1578.

[14] Kreiler, Kurt, Der Mann, der Shakespeare erfand, Frankfurt/Main 2009, S. 207.

[15] Castiglione, Buch I. xvii.

[16] Ben Jonson, Poetaster, IV.9.

[17] Chambers, Shakespeare, Bd. II, S. 213.

[18] Philibert de Viennes, Le Philosophe de la Cour,  Genf 1990, S. 117.

[19] Torquato Tasso, Il Mapiglio: A Dialogue on the Court. Introduction, Notes, and Bibliography by Dain A. Trafton, English Literary Renaissance Supplements, Number Two, Published by Dartmouth College, 1973, S. 37. „And if that other portrait, by Castiglione, was made for his time, the portrait you have made outh to be prized in these times when dissimulation is one of the most important virtues.“

[20] The Art of English Poesie by George Puttenham. Edited by Gladys Doidge Willcock and Alice Walker. Cambridge 1936, S. 186.

[21] Philibert de Viennes, Le Philosophe de la Cour, S. 117.