Irrtümer in der Shakespeare-Forschung

II. Rechtsfiktionen (1)

Rechtsfiktionen spielten im altenglischen Recht keine geringe Rolle. Dies nur als allgemeinen Satz im Gedächtnis zu bewahren, reicht vermutlich nicht aus, es auch zu gewahren, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie sehr Rechtsfiktionen im Rechtsbewusstsein der Elisabethaner verankert waren. Rechtfertigung für diesen langen Vorlauf zu den Briefen der Lord Chamberlains ist unsere These, dass es sich bei dem vordergründigen Anlass, die Stücke der King's Men, vormals Chamberlain's Men, gegen Raubdruck zu schützen, um eine Fiktion handelt. An dieser Stelle mag dies noch als dreiste ad hoc Annahme anmuten, die man auf keinen Fall gegen eine so handliche Aussage wie die des Shakespeare Handbuches, dass der Autor keine Rechte hatte und die Schauspielerensembles die rechtmäßigen Eigentümer der Stücke waren, einzutauschen bereit ist. Ist man aber anderseits bereit, die krasse Betriebsblindheit in Kauf zu nehmen, die diesen Aussagen zugrunde liegt?

Tauchen wir gleich in die Welt der Rechtsfiktionen ein. Sie waren nicht unumstritten. Vor allem jene Gerichtshöfe, die sogenannten „Equity courts", deren Rechtsprechung mehr am römischen und kanonischen Recht orientiert war: Chancery Court (Gerichtshof des Lordkanzlers, des Justizministers also), das Court of Request oder der Admiralty Court (Gerichtshof der Admiralität), der im Prinzip für alle Fälle, deren Entstehungsort das Meer oder das Ausland war, bezweifelten die Rechtmäßigkeit bestimmter Rechtsfiktionen, was nicht verwundern kann, weil sie von den beiden größten Common Law Courts, die Common Pleas, aber vor allem die King's (Queen's) Bench, benutzt wurden, um immer mehr Rechtsprechung von den Equity-Gerichten abzuziehen.

Thomas Eagleton, Lord Ellesmere, war Lord Chancellor von 1596 bis 1617 und als solcher oberster Richter des Chancery Court. Der folgende Passus (aus Louis Knafla, Law and Politics in Jacobean England - The Tracts of Lord Chancellor Ellesmere, Cambridge 199, S. 294) aus den Ellesmere Tracts (modernisierte Rechtschreibung) dürfte vermutlich nicht unmittelbar verständlich sein:

„Supposing in some cases that some goods or merchandises that indeed never were in England; and in some cases that a ship itself was lost in Cheapside in London, or in some other place in Middlesex, and there found by the defendant and converted to his use. And so that matter, which naturally and properly ought to be decided in the Admiral Court, for that the grounds and cause is matter happening on the sea or beyond the seas, is indirectly, by an untrue and unlawful fiction drawn to be tried by a lay jury of London or Middlesex and judged by the Common Law." This practice is lately grown too common, and as it is now put in ure, it does not only wrong the lawful jurisdiction of the Court of Admiralty but does also make a great breach in a principal maxim of the Common Law itself, which is, that all things (specially (especially the right and title of lands) ought to be tried in their own proper country. But by this shift, upon a fiction, that tin, lead, coals, corn, hay, timber, and such like whatsoever, that did grow and come out ot the lands in Cornwall, Yorkshire, or Wales were lost and found in Cheapside or Middlesex; the very right and titles of the land is brought in trial there. A matter full of inconvenience and against the true rules of the Common Law, and therefore meet to be reformed."

Anstelle einer Übersetzung ein erklärender Kommentar:

Der Lordkanzler Ellesmere beklagt, dass Waren und Güter, die niemals auf englischem Boden gewesen sind, weshalb sich auf sie beziehende Streitfälle nach dem Gesetz vom Gericht der Admiralität zu entscheiden sind, dennoch von Common-Law-Gerichten, insbesondere der King's Bench verhandelt werden, indem einfach ein fiktiver Ort eingeführt wird. So wurde behauptet, dass ein Schiff in Cheapside, in den Straßen Londons gefunden worden wäre, so dass die Gerichtsbarkeit dem Admiralitätsgericht entzogen wird. Oder dass Zinn, Blei, Kohle, Getreide, Heu, Bauholz, das aus Cornwall, Yorkshire oder Wales kommt, in Cheapside oder Middlesex gefunden worden seien. Wer solche Dokumente treuherzig empirisch für bare Münze nimmt, müsste dann wohl schließen, dass es zurzeit Lord Ellesmeres in London so etwas wie „Straßenschiffe" sowie Zinn- und Kohlevorkommen gegeben hätte.

Diese Überlegungen scheinen mit den Briefen der Lord Chamberlains auf den ersten Blick überhaupt nichts zu tun zu haben. Unsere These lautet aber: auch diese Briefe enthalten eine Rechtsfiktion und dürfen nicht für bare Münze genommen werden. Dieser These wollen wir uns schrittweise nähern.

Sich die Rechtsprechung über einen Fall zu sichern, indem ein fiktiver Gerichtsstandort eingeführt wurde, war bereits im 14. Jahrhundert versucht, aber erst seit etwa Mitte des 15. Jahrhunderts gerichtlich sanktioniert worden. (W. S. Holdsworth, A history of English Law, Band V, London: Methuen, S. 118-9). Im Falle der von Lord Ellesmere angeführten Beispiele kann man noch erwarten, dass die Verdachtsmomente: Schiff in Cheapside, Zinnvorkommen in London zu augenfällig sind, um nicht den Argwohn des Lesers auszulösen. Im Fall der Rechtsfiktion des „Bill of Middlesex", der Gegenstand der übernächsten Fortsetzung sein wird, sind die Literaturhistoriker aber ausnahmslos, wie es aussieht, übertölpelt worden.

Doch erst wird ein kurzer geschichtlicher Abriss des fiktiven Gerichsstandortes folgen.

© R. Detobel


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