Irrtümer in der Shakespeare-Forschung

III. Rechtsfiktionen (2)

Fiktiver Gerichtsstandort

Ursprünglich hatte ein Prozess in der Grafschaft geführt zu werden, in der der Streitfall entstanden war. Diese strikte Vorschrift konnte jedoch nicht eingehalten werden, wenn sich der Tatbestand auf mehrere Grafschaften verteilte. Es wurde deshalb eine Trennung vollzogen zwischen „transitorischen" und „lokalen" Streitfällen. „Transitorisch" bedeutet, dass der Tatbestand nicht wesentlich ortsbezogen war, zum Beispiel im Fall eines Schuldverhältnisses, „lokal" waren ortsgebundene Vorfälle wie etwa Einbruch. Für eine ganze Reihe von Prozessen konnte der Gerichtsstandort somit frei gewählt werden. Eine Kategorie transitorischer Fälle blieb davon jedoch ausgenommen, und zwar diejenigen, deren Entstehungsort entweder das Ausland oder die Hochsee waren. Diese Fälle fielen unter die Gerichtsbarkeit des Admiralitätsgerichts, des Geheimrats, der zugleich Exekutive und Judikative war, oder des Kanzleigerichts (Court of Chancery).

Die Unterscheidung zwischen „wesentlich" und „unwesentlich", „material" und „formal" ging über den engen Bereich der Gerichtstandortswahl hinaus. Im „Fall Pigot" (verhandelt vor dem King's Bench-Gericht im Jahre 1614)  entschied Lord Chief Justice Sir Eward Coke: „Wenn irgendeine Urkunde vom Schuldner oder von irgendeinem Dritten ohne Wissen des Begünstigten in einem materialen (wesentlichen) Punkt in irgendeiner Weise geändert wird, sei es durch Hinzufügung zwischen den Zeilen, Ergänzung, Löschung, Durchstreichung oder durch Änderung eines materialen (wesentlichen) Wortes, so ist die Urkunde null und nichtig. Aber wenn irgendein Dritter ohne Wissen des Begünstigten die Urkunde in einer vorhin genannten Weisen in einem Punkt ändert, der nicht material (wesentlich) ist, so bleibt die Urkunde gültig." In diesem Fall hatte der Beklagte Pigot nach Übergabe der Urkunde (erst mit der formal protokollierten Aushändigung wurde eine Urkunde rechtskräftig) hinter dem Namen „Benedict Winchcombe, Esq." den Zusatz „Sheriff of the county of Oxford" - was dieser Winchcombe auch war - sowie vor dem Namen den Zusatz „in £60" - ein Betrag,  der vorher bereits in der Urkunde erwähnt worden war - geschrieben. Das Gericht betrachtete diese Änderungen als immaterial und erklärte die Urkunde gültig (The All England Law Reports Reprint, editor: G.F.L. Bridgman, Esq, London: Butterworth & CO., 1968, S. 50-53). Aber der Fall gilt auch für Rechtsfiktionen, da auch diese nur dann gelten, wenn sie den materialen Sachverhalt nicht berühren, dann jedoch „untraversable" sind, d. h. nicht angefochten werden können. In der nächsten Fortsetzung werden wir sehen, dass eine Rechtsfunktion selbst als äußerer Anlass dienen konnte, sofern nicht der materiale Sachverhalt berührt wurde. 

Cheapside

Zurück zur Zuständigkeit des Admiralitätsgerichts, denen die Common-Law-Gerichte durch die freie Gerichtsstandortwahl zunächst nichts anhaben konnten. Doch bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts versuchten sie auch diese Rechtsprechung durch eine Fiktion an sich zu ziehen. Der Ort des Geschehens wurde einfach an einen Ort innerhalb Englands verlegt. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts begann sich diese Praxis durchzusetzen. Common-Law-Gerichte zogen immer mehr Fälle an sich, für die nach dem Gesetz ein anderes, nicht Common-Law-Gericht, vor allem dem der Admiralität, zuständig war, solche Fälle also, die sich im Ausland oder auf hoher See ereignet hatten, indem sie die Fiktion eines Ortes in England einführten. Gegen eine solche Fiktion konnte kein Einspruch eingelegt werden, solange die Ortswahl nicht den Kern des Tatbestandes berührte. Weitere Voraussetzung für die Gültigkeit dieser Fiktion war, dass sie ausdrücklich in den Akten vermerkt wurde. In der Regel wurde immer der gleiche fiktive Ort gewählt: Cheapside, so dass auch die Erwähnung des fiktiven Orts formelhaften Charakter annahm: „to wit in the parish of St. Mary-le-Bow in the Ward of Cheap" („nämlich in der Pfarrei der [Kirche der] Heiligen Maria-mit-den-Bögen im Bezirk Cheap").  Wann immer diese Formel in einer Gerichtsakte auftaucht, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Transaktion nicht in England, sondern außerhalb Englands stattgefunden hatte, im Ausland oder auf hoher See. Denn normalerweise brauchte bei Schuldsachverhalten der Ort, an dem das Schuldverhältnis eingegangen worden war, nicht erwähnt zu werden. In Fällen aber, für die das Admiralitätsgericht zuständig war, MUSSTE der fiktive Ort erwähnt werden, da dieses sonst den Fall für seine Gerichtsbarkeit hätte einklagen können. Gegen eine Rechtsfiktion war jedoch kein Einspruch möglich. Nur, es sei noch einmal betont, musste diese Fiktion in dem Urteil explizit erwähnt sein. Daher: Wann immer uns in einem Urteil der Ausdruck „to wit in the parish of St. Mary-le-Bow in the Ward of Cheap" begegnet, wissen wir mit Sicherheit, dass die Transaktion just dort NICHT stattgefunden hatte, sondern entweder auf hoher See oder im Ausland.

Genau diese Formel (in lateinischer Sprache) findet sich in dem Prozess, den 1600 ein gewisser Willelmus Shackspere gegen einen John Clayton über einen Betrag von £7 führt: „to wit in the parish of St. Mary-le-Bow in the Ward of Cheap". In diese Falle sind ausnahmslos alle orthodoxen Forscher getappt, selbst ein so akribischer Forsche wie Sir Edmund K. Chambers. Chambers, der kaum auf diesen Prozess eingeht, schreibt: „I agree with Lee that there is no ground for identifying the Willelmus Shackspere of this with the dramatist. The debt was acknowledged in Cheapside on 22 May 1592. No local description is given by which the habitation of the plaintiff can be fixed. The defendant was of Willington in Bedfordshire." (Shakespeare, II.52). In der nächsten Fortsetzung werden wir feststellen, dass in einem solchen Fall der Wohnort des Klägers nie angegeben wurde und es nicht einmal sicher ist, ob John Clayton tatsächlich in Willington seinen Wohnsitz hatte: denn eine zweite Rechtsfiktion ist am Werke: der sogenannte Bill of Middlesex. Auch das hat bisher kein Forscher erkannt. Sicher ist jedoch - siehe oben -, dass das Schuldverhältnis nicht in Cheapside, sondern entweder auf hoher See, wahrscheinlicher indes im Ausland eingegangen wurde. Womit William Shakespeare aus Stratford-on-Avon als Willelmus Shackspere ausscheidet... und Chambers und die anderen orthodoxen Forscher, die seine Ansicht teilen, gleichwohl im Recht sind.

Auch Anti-Stratfordianer haben dies nicht erkannt und einige unter ihnen dürften sich gegen die Einsicht, es könne sich nicht um Shakespeare aus Stratford handeln, sperren. Zu den prominenten Opfern der Einbildungskraft elisabethanischer Richter und Anwälte gehört auch der Begründer des Oxfordianismus John Thomas Looney. Diese Beitreibung einer Schuld von £7 schreibt, könnte „das Ergebnis einer Stippvisite in der Metropole oder einfach das Tun eines Vertreters gewesen sein." („Shakespeare" Identified, Kennikat Press, New York/London, 1975, S. 44). Er, Shakespeare aus Stratford, ist es auf keinen Fall. Der Clayton-Prozess ließe sich ja so schön zur Erhärtung mancher These über die Rolle Shaksperes nutzen, dass man sogar ein wenig Verständnis für jene Antistratfordianer aufbringen könnte, die darauf beharren, er sei es doch: Shakspere als hartgesottener Geldverleiher, Shakspere als eine Art Shylock, der seine Schuldner erbarmungslos ins Gefängnis bringt. Wobei weder das eine noch das andere zutrifft. Über Shylock wissen wir mehr als über Willelmus Shackspere, über den wir nichts wissen. Sieben Pfund sind keine dreitausend Dukaten. Und sollte Antonio für John Clayton stehen? Abgesehen davon, dass man soviel Anstand aufbringen sollte, ein entkräftetes Argument auszusortieren. Und dass Willelmus Shackspere den John Clayton hätte einsperren lassen, das ist auch nur Bestandteil eines fiktiven Rechtsszenarios, des bereits erwähnten Bill of Middlesex.

Sagten wir nicht, wir wüssten nichts über Willelmus Shackspere? Vielleicht wissen wir doch etwas. Denn im Internet ist ein plausibler Kandidat aufgetaucht; dank Frank von Nueshoorn, der in den Antwerpener Archiven auf ihn gestoßen ist, wissen wir, dass ein Willem Shaakspeer (die Antwerpener Behörden verstanden seinen Namen - dies als kleines postumes Neujahrsgeschenk an Sigmund Freud - als „Shaak = Jaak = Jacques" und „Peer = Peter = Pierre", genau wie Freud, allerdings in Bezug auf einen anderen Shakspere, vermutete) ein 1587 in Antwerpen ansässiger englischer Lehrling der Gilde der Merchant-Adventurers (was man am besten als Außenhandelskaufmann übersetzt) war, der dort eine mehrsprachige Plantin-Bibel kaufte, aber gleichzeitig wegen unzüchtigen Betragens in einer Matrosenkneipe ein Bußgeld zu zahlen hatte .Haben wir hier den Bibelverse zitierenden und sich vorwiegend in Kneipen aufhaltenden Falstaff vor uns? Dieser Willelmus  Shackspere oder Shakespeare in Antwerpen bietet fast mehr Anknüpfungspunkte an das Werk als der in Stratford. War es der aus dem Clayton-Prozess? Er könnte es durchaus gewesen sein. Sicher sein können wir nicht. 

© R.Detobel


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