Irrtümer in der Shakespeare-Forschung

Rechtsfiktionen (3)

IV. Fiktive Inhaftierungen

Das altenglische Rechtssystem war äußerst rigide, extrem konservativ, geradezu konservatorisch. Ein „Statute", ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz also, änderte man nicht so schnell, auch dann nicht, wenn es Bestimmungen enthielt, die, wie das Statut De Donis Conditionalibus, antediluvianisch anmuteten und der gesellschaftlichen Entwicklung hinderlich waren. Bis 1819 bot sich den streitenden Parteien im Prinzip die Möglichkeit, die Urteilsfindung durch gerichtlichen Zweikampf zu beantragen. Als diese Möglichkeit aus den Gesetzbüchern gestrichen wurde, hatte seit über 600 Jahren sich kein Gericht mehr auf Urteilsfindung durch gerichtlichen Zweikampf entschieden.

Hinsichtlich dieses beharrlichen Aufbewahrungswillens könnte man das englische Rechtswesen mit dem Speicher eines alten Bauernhauses vergleichen. Hier steht in einer Ecke eine alte Truhe voll halbverrosteter Korsettstangen - man kann ja nicht wissen, ob die alte Mode nicht einmal zurücckehrt. Dort steht in einer anderen Ecke ein Kerzenleuchter neben einer Öllampe, die das letzte Mal vor hundert Jahren benutzt worden ist - man kann ja nicht wissen, ob nicht einmal der Strom total ausfällt oder die Energiequellen nicht mehr ausreichen. Und irgendwo dazwischen liegt ein Schwert - wer weiß, ob das eines Tages vor Gericht nicht wieder gebraucht wird.

Das altenglische Recht war gleichzeitig extrem flexibel. „Denn das neue Recht der Renaissance kam nicht zustande, indem die alten Lehren beseitigt, sondern indem sie beiseite geschoben wurden." (The Reports of John Spelman, Vol. II. J.H. Baker Hrsg.), London: Selden Society 1978, S. 163) - Beiseite geschoben wurden sie durch Rechtsfiktionen.

Eine solche Rechtsfiktion war auch Der „Bill of Middlesex" , der ebenfalls Teil des Prozesses zwischen Willelmus Shackspere und John Clayton war. Doch warum dies noch weiter verfolgen, wenn bereits aus dem obigen Abschnitt hervorgeht, dass es sich bei Willelmus Shackspere nicht um William Shakespeare aus Stratford-on-Avon handeln kann.

Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist die kindliche Freude des Forschers oder einfach Suchenden, wenn er feststellt - ah, ah - da bin ich der Erste, der bemerkt hat, wie der Hase läuft. Doch auch dieser Grund ist kein ausreichender. Denn über eine solche Freude schwebt stets der Schatten der Möglichkeit, dass ein Anderer es bereits gesehen hat und nur die anderen Anderen es nicht zur Kenntnis genommen haben. Dazu gesellt sich das ernüchternde Wissen: Hätte ein Rechtshistoriker sich des Falles angenommen, er hätte wohl recht bald bemerkt, dass es sich um einen „Bill of Middlesex" handelt, und die nüchterne Korrektur, allenfalls der Erste im literaturgeschichtlichen Universum gewesen zu sein, deren Erforscher es versäumt haben, das geeignete Teleskop im Fachhandel der Rechtshistorie zu bestellen.

Der zweitwichtigste Grund ist jedoch, dass uns dieser Fall als Glatteiswarnung dient, die grundsätzlich bei jedem Betreten frühneuzeitlichen dokumentarischen Bodens zu beachten ist: mit puristischen philologischen oder empirischen Methoden rutscht einer auf diesem dokumentarischen Boden aus. Schwarz auf Weiß steht da doch, Clayton ist eingesperrt worden. In Wahrheit kann davon nicht die Rede sein.

Der wichtigste Grund vom Standpunkt des hier behandelten Themas ist indes, dass die Rechtsfiktion in der Frühen Neuzeit ein nahezu natürliches Dasein führte und deshalb dem allgemeinen Rechtsbewusstsein vertraut gewesen sein dürfte - nur uns ist sie zunächst fern bis unverständlich. Die Rechtsfiktion stellt ja keine Rechtsbiegung oder -brechung dar, sondern eine Brücke oder Krücke, die nicht selbst Teil des Rechtsinhaltes ist, sondern nur an diesen Inhalt heranführt.

Damit ist unsere These zwar immer noch nicht ausreichend oder plausibel belegt, aber als Möglichkeit erscheint sie am Horizont: Der Schutz des Eigentums der Schaupieler an den Stücken, den die Lord Chamberlains als Grund für ihre Intervention bei der Druckergilde (Stationers' Company) nennen ist eine Fiktion, der Vektor oder das Vehikel für ihr eigenes Bestreben, den Anspruch ihres Untergebenen, des Master of the Revels, und damit letztlich ihre eigene Kontrolle über die Genehmigung von Theaterstücken oder damit verwandten Werken für den Druck zu gewinnen. Bereits aus der ersten behandelten Intervention wird deutlich werden, dass der Master of the Revels keine gesetzliche Berechtigung besaß, was er faktisch dreißig Jahre lang tat: das Imprimatur für Theaterstücke zu geben. Denn hätte er eine gesetzliche Berechtigung gehabt, hätte der Lord Chamberlain die im Mai 1623 für ihn nicht anfordern brauchen.

„Writs" und „Bills"

Heute haben sich die Bedeutungen von „writ" und „bill" angenähert. Beide können mit der näheren Bestimmung „of complaint" als Klageschrift verstanden werden. In dem hier vorliegenden Zusammenhang ist es unerlässlich, zwischen „writ" und „bill" streng zu scheiden. 

Ein „writ" war ein Formular. Für jede Art von Klage sahen die Common-Law-Gerichte ein bestimmtes Formular vor. Die drei wichtigsten Common-Law-Gerichte seien zur Erinnerung noch einmal erwähnt: King's Bench, Common Pleas und Exchequer. Der Rechtsprechungsbereich des letzteren Gerichtes galt vor allem den Schulden gegenüber der Krone. Für Störungen der öffentlichen Ordnung, vom einfachen Verstoß bis Hochverrat, war die King's Bench zuständig; sie funktionierte außerdem als ein Berufungsgericht bei Verfahrensfehlern; sie hatte jedoch keine generelle Rechtsprechungsbefugnis, außer innerhalb der engen Grenzen der Grafschaft Middlesex. Das Gericht mit dem umfassendsten Rechtsprechungsbereich war die Common Pleas. Dieses Gericht war für die Rechtsprechung in Schuldverhältnisfragen zuständig. Man braucht nur noch zu wissen, dass ähnlich wie die King's Bench einen Teil der normalerweise dem Admiralitätsgericht zustehende Rechtsprechung an sich zog, indem sie den Gerichtsstandort nach Cheapside verlegte, so einen Teil der Rechtsprechung des Common-Pleas-Gerichts durch den „Bill of Middlesex". Eine Verlegung des Gerichtsstandortes reichte in diesem Fall nicht aus, denn  sie war ja nicht befugt, über Schuldverhältnisse Recht zu sprechen... es sei denn, es gelang ihr irgendwie den Fall nach Middlesex zu verlegen.

Bis 1540 war die King's Bench immer mehr dazu übergegangen, statt das Verfahren durch einen „writ" durch einen „bill" einzuleiten, während die Common Pleas beim „writ" blieb. Völlige Klarheit darüber, wie ein „writ" ausgefertigt wurde, scheint bis heute nicht zu bestehen. J. H. Baker (Reports of Spelman, S. 88) geht davon aus, das der Anwalt des Klägers eine Klageschrift beim „cursitor", so hieß der Beamte der, im Court of Chancery für die Ausfertigung des „writ" zuständig war und dieser Beamte sie dann in das entsprechende Formular einpasste. Man sieht ohne weiteres, dass es sich um eine etwas umständliche Prozedur handelte. Zwar konnte, wenn ein neu gearteter Streitfall auftauchte, ein neuer „writ" entworfen werden, aber es bleibt, dass es einfacher und zeitsparender gewesen wäre, wenn der Anwalt die Klageschrift, den „bill of complaint" direkt dem Gericht hätte vorlegen können. Ohne dass sie vorher vom „cursitor" im Court of Chancery in das passende Format des Formulars gebracht werden musste.

So verfuhren das Court of Chancery selbst und die anderen mehr am römischen und kanonischen Recht orientierten Gerichte. So verfuhr, wie gesagt, auch die King's Bench (von 1553 bis 1603 natürlich die Queen's Bench) immer mehr. Im „bill of complaint" müssten die Umstände des Falles detailliert aufgeführt werden, alle betroffenen Parteien, wie immer nah oder fern sie involviert waren, genannt werden und schließlich musste die der Anwalt des Klägers beglaubigen.

Nur eine weitere Information bleibt noch nachzuliefern. Die King's Bench hatte universale Rechtsprechungsbefugnis für die Grafschaft Middlesex. Ihr angegliedert war ein Gefängnis, das „Marshalsea". Weshalb nannte man das Gefängnis Marshalsea? Früher war es einer Sparte der King's Bench angegliedert, dem Court of the Marshal, dem Gericht des Hofmarschalls. Dieses Gericht war für die Rechtsprechung über Schuldverhältnis innerhalb der Bannmeile  des Hofes zuständig. Eigentlich müsste das Gefängnis „Marshalcy", „Marschallität", heißen. Die Endung „-sea" ist einfach eine phonetische Schreibweise der Endung „-cy". Und in dieser Schreibweise hat sich die Bezeichnung erhalten.

Theoretisch war die Aufgabe der King's Bench (im Fall Clayton der Queen's Bench) einfach: sie müsste irgendeinen in ihren Rechtsprechungsbereich fallenden  Ordnungsverstoß („trespass") konstruieren, damit sie den Schuldner ins Marshalsea einsperren konnte, um dann über den Fall zu entscheiden. Das war der „Bill of Middlesex". Die Situation mag auf den ersten Blick sur- bis unrealistisch erscheinen. Noch unwahrscheinlicher ist das Ergebnis: die meisten Parteien versuchten, auf diese Weise ihren Streit zu schlichten, denn die King's Bench bot eine Prozedur, die in vielen Hinsichten transparenter und zügiger war als die des Common-Pleas-Gerichtes mit seinen „writs", seiner anglonormannischen Rechtssprache, einem anglisierten Französisch, ein früher Fall von „Franglais" sozusagen. Das ganze Verfahren, bei dem der Schuldner eines kriminellen Deliktes beschuldigt, sich der Justiz entzog und schließlich gestellt und im Marshalsea gefangen gesetzt wurde, stand ja nur auf dem Papier. Im folgenden Abschnitt folgen wir der Beschreibung von Willam S. Holdsworth (History, Vol. I., S. 219-224).

Bill of Middlesex

„Der erste Schritt in diesem Verfahren bestand darin, den Beklagten real oder fiktiv in die Gewahrsam des Marschalls (custody of the Marshal) zu bringen... aber schließlich wurde entschieden, dass eine Eintragung in das Prozessregister einfach genügt und eine Bürgschaftsleistung des Beklagten als Beweis der wirklichen Inhaftierung gelten könne. Um das Beweismaterial aktenkundig werden zu lassen, wurde vom Kläger gegen den Beklagten einen ‚bill of Middlesex' eingereicht, in dem erklärt wurde, dass er eines Vergehens vi et armi [durch Gewalt- und Waffenanwendung] - ein Tatbestand, der in den Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts fiel. Für diese Behauptung zog der Beklagte zwei Personen mit den fiktiven Namen John Doe und Richard Roe an. Der Sheriff von Middlesex wurde dann beauftragt, den Beklagten vor Gericht zu bringen, um auf die Beschuldigung eines Vergehens durch den Kläger zu antworten. Wenn der Sheriff eine Erklärung ‚non est inventus' [‚nicht aufzufinden'], wurde dem Sheriff einer angrenzenden Grafschaft, ein ‚writ of latitat' [eine Anklage wegen Untertauchens] geschickt. In diesem ‚writ of latitat' wurde der ‚bill of Middlesex' wiederholt und erklärt, dass der Beklagte ‚latitat et discurrit' in dieser Grafschaft [‚sich versteckt und herumirrt']; dem Sheriff wurde dann befohlen, den Beklagten gefangen zu nehmen. Der Verstoß und die Schritte, den Beklagten zu stellen, waren reine Fiktionen, um dem Gericht der King's Bench die Rechtsprechung über den Fall zu sichern... Wenn der Beklagte erschien und Bürgschaft für sein künftiges Verhalten leistete, wurde er als ausreichend in der Gewahrsam des Marschalls erachtet. Wenn er auf den ‚writ of latitat' hin nicht erschien, wurde dies als Missachtung des Gerichts betrachtet, wofür er verhaftet wurde. Aber auch diese Verfahren waren pure Fiktion. Einen Mann wegen eines fiktiven Vergehens zu verhaften hieße auch zu weit gehen. Deshalb konnte der Kläger seine fiktiven Freunde John Doe und Richard Roe Bürgschaft leisten lassen. Dies wurde ‚gewöhnliche Bürgschaft' (common bail) genannt. In einigen Fällen wurde jedoch eine tatsächliche Bürgschaft, ‚Sonderbürgschaft' genannt, verlangt. Eine Sonderbürgschaft wurde gewöhnlich verlangt, wenn der Streitwert mehr als £10 betrug."

Das war nicht der Fall. Die Summe belief sich nur auf £7. Deshalb genügten die fiktiven Bürgschaften von John Doe und Richard Roe. Unten ist als Nachtrag eine englische Fassung eines Ausschnittes aus dem Prozess Shackspere gegen Clayton abgedruckt. Man wird darin einige der im obigen Text fettgedruckten englischen Ausdrücke wiederfinden. Zweifel sind nicht möglich: Es handelt sich eindeutig um einen „Bill of Middlesex", vermischt mit der fiktiven Ortswahl St Mary-le-Bow in the Ward of Cheap, um zusätzlich das Admiralitätsgericht zum umgehen. Und da ungefähr alles fiktiv ist, dürfte auch die Ortsangabe Willington in Bedfordshire für John Clayton fiktiv und nur deshalb gewählt worden sein, weil Bedford eine Middlesex (damals noch selbständige Grafschaft) benachbarte Grafschaft war.

Niemand scheint dies bisher gemerkt zu haben. Für die orthodoxe Shakespeare-Forschung ist das Ergebnis insofern unangenehm, als sie nie auf den Gedanken gekommen zu sein scheint, der Frage etwas gründlicher nachzugehen.  Ansonsten erscheint ihre Zurückweisung durch diese Beweisführung eher noch berechtigter.

Für manchen Anti-Stratfordianer, einschließlich einiger Oxfordianer, sind die Folgen eher unangenehmer, weil sie von einem liebgewonnenen Szenario des William Shakspere als eines ruchlosen Geldverleihers in London und Stratford, der seine Schuldner bereits für kleine Beträge einsperren ließ, Abschied nehmen müssten. Hier handelt es sich nicht um Shakespere aus Stratford-on-Avon. Aber im Fall Shackspeare gegen Addenbrooke (1608/) handelt es sich eindeutig um ihn. Allein finden sich auch hier Merkmale eines vorgelagerten fiktiven Verfahren: Addenbrooke sollte verhaftet werden, aber er „non est inventus", John Doe und Richard Roe sind Bürgen, usw. Vom „Geldverleiher Shakspere" bleibt dann nicht viel mehr übrig. Eigentlich gar nichts. Denn die £30, die er seinem künftigen Geschäftspartner Richard Quiney lieh, könnte man eher als „Investition" bezeichnen. Denn Quineys Äußerungen in dem Brief und in den Briefen des anderen Geschäftspartners, Abraham Sturley, an Quiney, deuten darauf hin, dass beide mit einer regen Geschäftstätigkeit William Shaksperes rechneten.

 


 

Nachtrag

Shackspere v. Clayton                                                 Copyright © J. M. Rollett, 2002

KB27/1361/1 rot.293  (Coram Rege roll, Easter 42 Eliz. (1600)

Easter Term Continuation                                                          Popham [Chief Justice]

London.  Be it remembered that at another time, namely in Hilary Term last past before the Lady Queen at Westminster came William Shackspere by his attorney Thomas Awdley. And he produced here in Court then and there a certain bill of his against John Clayton of Wellington in the County of Bedford yeoman in the custody of the Marshal &tc. concerning a plea of debt. And the pledges to prosecute are John Doe and Richard Roe.  Which bill follows in these words.// London - William Shackspere complains against John Clayton of Willyngton in the County of Bedford yeoman in the custody of the Marshal of the marshalcy of the Lady Queen being before the Lady Queen herself. And with a plea that he pay him Seven pounds of lawful money of England which he owes and unjustly witholds because, that is to say, that he the aforesaid John Clayton on the twenty-second day of May in the thirty-fourth year of the reign of the Lady Elizabeth the present Queen of England, to wit in the parish of St. Mary-le-Bow in the Ward of Cheap, London, by a certain bond in writing . . . and being shown now here to the Court of Lady Queen dated the same day and year, acknowl-edging himself to be bound to the aforesaid William to pay him the aforesaid seven pounds when asked for them.  However, the aforesaid John was often asked to do so by the aforesaid William, the aforesaid seven pounds were never paid. But up to the present he has entirely refused to pay them, and up to the present he continues to refuse and unjustly witholds them, to the damage of him, William, to the extent of ten pounds. And wherefore he brings this action &c.

And now at this day, namely Wednesday next after the eighteenth day of Easter in this same term, until which day the aforesaid John Clayton had leave to imparl on the bill aforesaid, and then to answer. To the Court of the Lady Queen at Westminster comes the aforesaid William Shackspere by his attorney aforesaid. And the aforesaid John Clayton is allowed until the second day, but having been solemnly called, does not say anything in bar or prevention of the suit of the aforesaid William, hence the same William remains against the aforesaid John Clayton who is without defence. *Therefore it is considered that the aforesaid William Shackspere shall recover against the afore-said John Clayton his debt and also twenty shillings for the damage which he sustained and for his expenses and costs in bringing this suit before the Court of the Lady Queen here, and his lordship with the assent of others will give judgement. And the aforesaid John Clayton is in mercy &c.

 [From * to the end, the verdict of the Court, the writing is much smaller than in the first part of the document, and was perhaps added later. To 'imparl' means to 'talk over'.

Transcription and translation by Tina Hampson; copyright © J. M. Rollett, 2002]

© 2010 R. Detobel


weiter zum V. Teil -------------- zurück zum I. Teil