Die Autorschaftsfrage und Das Shakespeare Handbuch: Die Lord Chamberlains

VIII. Der Brief vom 3. Mai 1619 des 3. Earl of Pembroke - Teil 1 -

Am 3. Mai 1619 liefert ein gewisser "Hen. Hemmings" ein Schreiben des 3. Earl of Pembroke an die Stationers' Company ab. Wer dieser Henry Hemmings ist, ist nicht bekannt. Möglicherweise ist er ein Verwandter des Schauspielers und Theatermanagers John Hemmings, vielleicht eines seiner 14 Kinder. Im Court Book C, den Aufzeichnungen des Court of Assistants, ist auf Seite 110 eine knappe Inhaltsangabe enthalten (Records of the Court of the Stationers' Company 1602 - 1640. Edited by William A. Jackson. London 1957):

"upon a letter from the right honourable the Lord Chamberlain. It is thought fit & so ordered that no plays that his Majesty's players do play shall be printed without consent of some of them." Es sollen also keine Bühnenstücke, die von den King's Men gespielt werden, gedruckt werden ohne Zustimmung einiger von ihnen. Völlig eindeutig ist die Angabe nicht. Um welche Stücke handelt es sich? Um Stücke, die gerade aufgeführt werden? Dann spricht wenig dafür, dass es sich um Stücke Shakespeares handelt. Oder überhaupt um Stücke aus dem Repertoire der King's Men?

Zwei Alternativen stehen zur Auswahl. Es handelt sich entweder um Stücke, die um den Mai 1619 herum von den King's Men aufgeführt wurden oder um jene neun Stücke, nach dem Verleger Thomas Pavier auch „Pavier-Quartos" genannt, die William Jaggard, der vier Jahre später die erste Folioausgabe von Shakespeares Bühnenstücken drucken wird, 1619 druckt. Da Pavier nur in fünf der neun Fälle als Verleger angegeben wird, Jaggard jedoch alle neun (eigentlich zehn, aber der zweite und dritte Teil von Henry VI werden in einem Band herausgegeben) druckt, würde man sie genauer als „Jaggard-Quartos" bezeichnen.

Der Brief ist nicht mehr erhalten. Was - das muss festgehalten werden - keine Selbstverständlichkeit ist. Wichtige Briefe wurden von der Stationers' Company in einem besonderen Schrank aufbewahrt. Sehr viele davon sind erhalten geblieben. Etwa ein Brief Francis Bacons vom 15. Mai 1618; Bacon war damals Lordkanzler; gemeinsam mit den beiden Chief Justices hatte der Lordkanzler darüber zu wachen, dass die Satzungen der Gilden nicht gegen das Gesetz verstießen; darum geht es auch in Bacons Brief. Auch mehrere Briefe des Erzbischofs von Canterbury oder des Bischofs von London sind erhalten. Aber Pembrokes Brief ist nicht erhalten. Sowenig wie sein Schreiben vom 3. März 1623 (siehe vorigen Abschnitt).

Wir wissen deshalb etwas mehr über seinen Inhalt, weil am 10. Juni 1637 sein Bruder und Nachfolger sowohl zum Titel Earl of Pembroke als im Amt des Kämmerers des königlichen Haushalts sich auf den Brief vom 3. Mai 1619 bezieht:

"Whereas complaint was heeretofore presented to my Deare brother & predecessor by his Majesties servantes the Players, that some of the Company of Printers & Stationers had procured, published & printed diverse of their bookes and Comaedyes, Tragedyes Cronicle Historyes, and the like which they had (for the speciall service of his Majestye & for their own use) bought and provided at very Deare and high rates. By means wherof not onely they themselves had much prejudice, but the bookes much corruption to the injury and disgrace of the Authors, And therupon the Masters and Wardens of the company of printers & stationers were advised by my Brother to take notice therof & to take Order for the stay of any further Impression of any of the Playes or Interludes of his Majestes servantes without their consentes."

„In der Vergangenheit haben sich die Schauspieler im Dienste seiner Majestät bei meinem Bruder und Amtsvorgänger darüber beschwert, dass einige Mitglieder der Drucker-, Verleger- und Buchhändlergilde sich mehrere ihrer Bücher: Komödien, historische Dramen aus Holinshed's Chroniken, Tragödien und Ähnliches, die sie zum besonderen Dienst an Seine Majestät und zur eigenen Nutzung besorgt und zu einem hohen Preis gekauft haben, beschafft und sie verlegt und gedruckt haben, wodurch nicht nur sie selbst einen Nachteil erlitten, sondern die Bücher selbst sehr zum Nachteil und Schande des Autors in verderbten Fassungen erschienen, weshalb der Meister und die Wardens der Drucker-, Verleger- und Buchhändlergilde von meinem Bruder aufgefordert wurden, darauf Acht zu geben und Maßnahmen zur Unterbindung des weiteren, ohne die Zustimmung der Schauspieler vorgenommenen Druckens von Interludien und Bühnenstücken zu ergreifen." 

Die Vermutung, Jaggard hätte sowas wie eine Protoausgabe der ersten Folioausgabe geplant, hat zumindest den Schein der Plausibilität für sich. „Comaedyes, Tragedyes Cronicle Historyes", schreibt Pembroke. "Comedies, Histories, & Tragedies" ist auf der Titelseite der ersten Folioausgabe zu lesen.

Die Aussage des Briefes verweist zum einen auf die Vergangenheit: Es sind schlechte Texte veröffentlicht worden. Das steht im Einklang mit der Klage, die die Herausgeber der ersten Folioausgabe von Shakespeares Bühnenstücken 1623 anstimmen. Zum anderen verweist sie auf die Gegenwart: die Stationers' Company soll die Einstellung des Druckens veranlassen, solange nicht die Schauspieler ihre Zustimmung gegeben haben. Wenn es sich dabei um Shakespeare-Stücke gehandelt haben sollte, können nur die 16 Stücke gemeint gewesen sein, die am 8. November 1623 in das Stationers' Register eingetragen wurden. Dazu muss man noch Othello rechnen, das 1619 noch nicht gedruckt war. Sollte Pembroke dieses Stück gemeint haben, so ist festzustellen, dass Pembrokes Aufforderung ohne jede Wirkung blieb, denn Othello wurde am 6. Oktober 1621 eingetragen, mehr als zwei Jahre NACH Pembrokes Schreiben. Die beiden letzten Eintragungen von Shakespeare-Stücken lagen elf Jahre zurück: am 20. Mai 1608 Antony and Cleopatra sowie Pericles. Pericles wurde jedoch gar nicht in die erste Folioausgabe aufgenommen, Antony and Cleopatra wurde gar nicht gedruckt und am 8. November 1623 erneut eingetragen.

Denn eines muss man sich klar vor Augen führen: Es hatte keinen Sinn, Stücke schützen zu wollen, die schon längst gedruckt waren und für die ein Verleger das Copyright besaß. Einem solchen Verleger lag nicht in der Macht der Stationers' Company. Sie hätte ihr eigenes Regelwerk außer Kraft setzen müssen. Es lag auch nicht in der Macht des Lord Chamberlain. Eine Gegenwehr hätte vom Autor selbst ausgehen können. Das geschah ja auch 1598 und 1599, wenn korrigierte und ergänzte Versionen von Love's Labour's Lost und Romeo und Juliet. Oder es hätte ein Außenstehender dem Verleger eine verbesserte Fassung zur Verfügung stellen können. Das war es wohl, was 1622 mit Beaumont und Fletchers Philaster geschah. Es hätte z. B. auch mit Merry Wives of Windsor geschehen können, geschah aber nicht bis 1623. Und wie sollten die Schauspieler durch den Druck von Merry Wives siebzehn Jahre nach Ersterscheinung Schaden nehmen können?

So betrachtet, kommen nur zwei Kategorien in Frage. Erstens um 1619 neu aufgeführte Stücke, zweitens, wenn es sich um Shakespeare-Stücke handeln sollte, jene 17 Stücke, die 1619 noch nicht in Druck erschienen waren.

Hypothese I: Neue Stücke

In welchem Zeitraum sollte man nach möglichen Stücken aus dem Repertoire der King's Men (denn nur auf solche Stücke bezieht sich Pembrokes Brief) Ausschau halten, die Pembrokes Intervention ausgelöst haben könnten? Drei Jahre scheinen etwas zu breit bemessen zu sein. Es spielt jedoch keine Rolle. Prüft man die von E. K. Chambers erstellte Liste (Elizabethan Stage, II. 380 ff.)  aller gedruckten Bühnenstücke, muss man bis zum Jahr 1611 zurückgehen, ehe man ein Stück der King's Men findet, das dann auch noch als Beispiel ungeeignet ist, denn dieses Stück, Catiline, wurde von seinem Verfasser Ben Jonson in Druck gegeben. Vor Mai 1619 bieten sich nur zwei Kandidaten an. Am 7. August 1618 wird A King and No King im Stationers's Register zum Druck angemeldet, am 28. April 1619 A Maid's Tragedy, beides Stücke von Beaumont und Fletcher. Ersteres war ein guter Text; er wurde 1619 gedruckt, vermutlich Anfang 1619 (drei bis vier Monate war in etwa die durchschnittliche Frist zwischen Eintrag und Veröffentlichung). Der Text von A Maid's Tragedy weist gewisse Mängel auf und wird gelegentlich als sogenanntes „bad quarto" eingestuft. Dieser Text könnte theoretisch die Intervention Pembrokes ausgelöst haben. Aber auch dieser Text wurde noch im gleichen Jahr 1619 gedruckt. Pembrokes Intervention wäre somit völlig wirkungslos geblieben. Drei auf den ersten Blick plausibleren Kandidaten (es gibt keine anderen) sind Philaster und Thierry and Theodoret (beide von Beaumont und Fletcher) und Shakespeares Othello. Aber ihre Eintragung findet erst NACH Pembrokes Schreiben statt. Philaster wird am 10. Januar 1620 eingetragen und im gleichen Jahr (nur die Jahreszahl der Veröffentlichung ist jeweils bekannt) gedruckt; der Text ist verderbt; 1622 wird eine verbesserte Fassung gedruckt. Othello wird am 6. Oktober 1621 eingetragen und 1622 gedruckt. Zu Thierry and Theodoret ist folgendes anzumerken:

Es wurde nicht in das Stationers' Register eingetragen, was allerdings nicht bedeutet, dass es nicht von einem Zensor (entweder vom Master of the Revels oder von einem episkopalen Zensor) geprüft und den Wardens zur Erteilung des Copyright vorgelegt worden wäre. Etwa 1/3 der gedruckten Werke wurden nicht in das Stationers' Register eingetragen. Eine gewisse Anzahl mag an der Zensur und der Stationers' Company vorbei gedruckt worden sein. Es ist jedoch undenkbar, dass dies für die Mehrzahl dieses Drittels gelten würde. Die Stationers' Company bestrafte solche von ihr nicht genehmigten Drucke und verzeichnete die Strafen. Nur wenig solche Strafen fü „inorderly printing" sind verzeichnet. Vielmehr ist anzunehmen, dass die meisten dieser Stücke den Wardens und meist wohl auch einem Zensor zwar vorgelegt, aber nicht in das Register eingetragen worden waren. Erst ab Juli 1621 (Court Book C, S. 466 ff.) verhängt die Stationers' Company ein Bußgeld für die Nichteintragung eines Werkes. Was zeigt, dass irgendwann vor Juli 1621 die Eintragung zwingend wurde. Trotzdem zogen es zwei Drittel der Verleger und Drucker vor, auch in der Zeit vor 1621 das Werk in das Register einzutragen. Warum erklärt der Veleger John Bill 1620: die Aufzeichnung des Copyright, denn das bewirkte die Registration, sei „die übliche und sicherste Gewähr, welche die Stationers für ihr Recht an den Werken haben". (Arber III. 39). Das Shakespeare-Handbuch, das hier vielleicht Leo Kirschbaum folgt (a.a.O., S. 66),  drückt sich da leicht irreführend aus: „Die Regelung und Anerkennung des Copyright (des Rechts auf den Vorlagentext, die » copy «) war eine zunftinterne Angelegenheit, für die der Eintrag nicht einmal ausnahmslos Vorbedingung war; die einfache Veröffentlichung eines Werkes genügte manchmal schon zu seiner Sicherung." [S. 210 in 1972er Ausgabe / S. 199 in der Ausgabe 2009] Die Bedenken richten sich nur gegen den letzten Teilsatz. Es ist kaum vorstellbar, dass die Stationers' Company auf ein Drittel ihres Kompetenzumfangs verzichtet hätte. Obwohl weder zu den ältesten noch zu den größten Zünften Londons gehörend, war sie für die Behörden die vielleicht wichtigste. Und auch diese hätten einen solchen freiwilligen Kompetenzverzicht vermutlich nicht hingenommen, denn die Stationers' Company war der verlängerte Arm der Regierenden für die Kontrolle der Öffentlichkeit (sie war es, die nach unerlaubten Werken fahndete). Umgekehrt erlaubte ihr diese Sonderstellung, ihre Kontrolle über die Presse (was damals identisch war mit der Welt des Druckwerkes) stetig auszudehnen.

Sollte es nun wirklich so gewesen sein, dass die anstehende Veröffentlichung von The Maid's Tragedy unmittelbarer Anlass für Pembrokes Intevention war, so ist erst noch einmal festzustellen, dass die Intervention wirkungslos blieb. Und es fragt sich dann, wieso Pembroke spätestens nicht nach der Veröffentlichung von Philaster und Othello ein zweites Schreiben hinterher schickte - empört oder nicht -, in dem er sein Befremden darüber ausdrückte, dass trotz seiner Ermahnung die Stücke der King's Men ohne die Zustimmung der Schauspieler gedruckt wurden.

So wie zum Beispiel 1615 John King, Bischof von London. Am 14. September 1615 schickt John King einen Brief an die Stationers' Company, in dem er beanstandet, dass sie unter einem fadenscheinigen Vorwand einem Veleger ein Copyright gewährt hatte, das einem anderen Verleger zustand. Denn, so der Bischof, die Änderungen in dem Nachfolgewerk stellten keinen so materialen Unterschied dar, dass sie ein neues Copyright rechtfertigen könnten (Court Book C, S. 351). An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs angebracht.

Das Recht, das eigene Werk zu ändern

Es handelte sich bei diesem Werk zwar um ein kompilatorisches Werk, das nicht aus der kreativen Arbeit eines Autors entstanden war, aber hier stellt einer der beiden obersten Zensoren (der andere war ja der Erzbischof von Canterbury) fest, dass ins Gewicht fallende Änderungen ein neues Copyright begründen. Wo mit einem Werk ein Autor erkennbar verbunden ist, konnten solche Änderungen nur vom Autor selbst ausgehen. Es ist der Grund, weshalb sich der Verfasser Timothy Bright 1586 verpflichten muss, an seiner Abhandlung über die Melancholie (Treatise of Melancholy) keine umfassenden Änderungen vorzunehmen, solange die bisherige Version nicht ausverkauft ist, da solche Änderungen das Copyright des jetzigen Verlegers aufheben würden. Aus demselben Grund musste John Milton 1667 eine ähnliche Verpflichtung gegenüber seinem Verleger Samuel Symons eingehen. Das Recht, das Werk zu ändern, lag somit beim Autor. Und die Stationers' Company erkannte dies an. Sonst hätten weder Timothy Bright 1586 noch John Milton 1667 eine solche Verpflichtung vertraglich eingehen brauchen. Das Recht, das eigene Werk zu ändern, war das kreative, das intellektuelle Recht des Autors.

Am 29. September 1615 richtet sich John King wieder an die Stationers' Company. Trotz seiner Warnung, schreibt er, rücke die Stationers' Company nicht von ihrem bisherigen Verhalten ab und verletze damit ihre eigenen Regeln. Er wünsche sich überhaupt nicht, dass zwischen ihm und der Stationers' Company Zwistigkeiten entstünden, deren Konsequenzen im übrigen für die Zunft bedenklichere Folgen haben würde als für ihn selbst. Am 14. Oktober 1615 folgt ein kurzer harscher Befehl, den Druck des Nachfolgewerks einzustellen; sollte dem Befehl nicht Folge geleistet werden, hätten Drucker und Zunft die unangenehmen Folgen sich selbst zuzuschreiben.

Warum tat der Lord Chamberlain nach dem 3.  Mai 1619 nichts Ähnliches? Warum forderte er die Stationers nicht erneut auf, erst die Schauspieler zu konsultieren, bevor sie deren Stücke druckten? Die Antwort hierauf wurde im vorigen Abschnitt gegeben. Dem Bischof von London stand kraft Paragraph 4 des Pressegesetzes vom 23.  Juni 1586 (Star Chamber Decree) ein Interventionsrecht zu; dem Lord Chamberlain fehlte eine gesetzliche Grundlage  für seine Intervention.

© 2010 R. Detobel


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