Shapiro-Tagebuch (9) Shapiros Maskerade

Shapiro und Shakespeares unsichtbarer „erster" Versuch zu einer Maskerade
in Timon von Athen

Shapiro bezeichnet Timon von Athen als Shakespeares ersten Versuch, in ein Bühnenstück ein Maskenspiel einzubauen. (siehe Shapiro-Tagebuch - 8) Nur ist es nicht möglich zu sagen, wie dieser Versuch ausgefallen ist. Zwar wird in der zweiten Szene des ersten Akts der Auftritt von Maskenspielern durch den Gott Cupido angekündigt:

Dem würd'gen Timon Heil und all den andern,
Die seiner Huld genießen! - Die fünf Sinne
Erkennen dich als ihren Herrn und nahn
Glückwünschend deinem edlen Haus, Geschmack,
Gefühl fand hier an deinem Tisch Erquicken:
Sie kommen nur dein Auge zu entücken.

Dann tritt Cupido ab. Es folgt eine Maskerade, in der, so müsste man nach Cupidos Ankündigung wohl erwarten, die fünf Sinne personifiziert würden: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Die Erwähnung von „Geschmack" und „Gefühl" deuten auf einen solchen Auftritt hin. Doch nach Cupidos Wiederauftritt einige Zeilen später findet sich bloß eine karge Regieanweisung: „Musik.Cupido tritt wieder auf, Maskerade von Damen als Amazonen verkleidet; sie haben Lauten und tanzen und spielen." Darauf folgt der Kommentar des Apemantus (Zeilen 127-141), eine erneute Regieanweisung, nach der jeder Lord vom Tisch aufsteht und sich eine Amazone zum Tanz auswählt - Timon zu Ehren. Eine der Damen spricht dann eine Zeile: „Ihr nehmt uns, Mylord, von der besten Seite." (Zeile 148); alle Damen zusammen sprechen auch nur eine einzige Zeile: „Dankbarst, Mylord." (Z. 152) Dann verlassen Cupido und die Damen die Bühne, auf Nimmerwiedersehen.

Shakespeares Maskenspiel findet nicht statt. Was stattfindet, ist der Auftritt als Amazonen maskierter Damen, die musizieren und spielen, aber kein Wort reden, wie es ein echtes Maskenspiel verlangte. 

Kann man trotzdem von Shakespeares erstem Versuch reden? War der erste Versuch vielleicht so etwas wie ein verzagtes Herantasten an die Kunstform des Maskenspiels? Oder ist der Inhalt des Maskenspiels etwa verloren gegangen?

Selbst dann kann man nicht von Shakespeares Versuch, sondern nur von Thomas Middletons Versuch reden. Denn Middleton ist der Autor dieser wie auch mehrerer anderer Szenen.  

Brian Vickers (Shakespeare Co-Author, Oxford 2002, S. 244-290) und vor ihm zahlreiche andere Autoren haben mit großer Akribie bewiesen, dass Middleton als der Verfasser der zweiten Szene des ersten Aktes zu gelten hat. Einer der ersten, der die Zwei-Autoren-Theorie vertrat, war Charles Knight. Ihm folgte der deutsche Shakespeare-Forscher Nicolaus Delius, der zu I.2 feststellte, dass nirgendwo sonst in Shakespeares Werk solche jähen Übergänge von Prosa zu Vers und umgekehrt zu finden seien. Auch G. F. Fleay (1831-1909) schrieb I.2 und  weitere Szenen einem unbekannten Autor zu, den er sogar richtig als den anonymen Verfasser von The Revenger's Tragedy identifizierte, der wiederum später als Thomas Middleton erkannt wurde. Sogar Edmund K. Chambers, der sich heftigst gegen jeden Versuch der „Desintegration" auflehnte, räumte dennoch ein: „Anderseits enthält das Stück fade Geschäftsszenen und humorlose komische Szenen... Und es sind mehrere Szenen (i.2; iii.1, 2, 3, 4. 1-79, 5; iv. 2. 30-50; iv. 3. 1-47, 464-543; v. i. 1-118), in denen zumindest die Verse nicht das komplette und zusammengefügtes Werk Shakespeares sein können." (Shakespeare, I.481).

Was Vickers nicht erwähnt - doch das brauchte er zur Erbringung seines Beweises auch nicht mehr - ist, dass auch das sogenannte Maskenspiel auf Middleton hinweist. Bei Middleton handelt es sich in der Regel um maskierte Auftritte. Am Ende der Revenger's Tragedy lässt er zwei Riegen maskierter Rächer auftreten, die nicht ein Maskenspiel vorführen, sondern direkt in die Handlung eingreifen. Die erste maskierte Rächerriege bringt den Herzog Lussurioso um, die zweite Rächerriege die erste Riege. In The Old Law (IV.1) treten ebenfalls maskierte Damen auf, die, wie in Timon von Athen, die Herren lediglich zum Tanz auffordern.

Shapiro stellt in Bezug auf Timon von Athen eine lückenlose Beweiskette für seine These auf, Shakespeare hätte kurz nach 1605, sozusagen im Vorgriff auf die Aufführungen im Blackfriars-Theater und in Anlehnung an Ben Jonson, kontinuierlich Maskenspiele in seine Stücke eingefügt, angefangen mit Timon von Athen. Aber Ben Jonson schrieb 1605 kein Maskenspiel für das Blackfriars-Theater und es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, dass Timon von Athen nach 1605 im Globe aufgeführt wurde. Wir können, wie im nächsten Beitrag dargelegt werden wird, von Ben Jonson etwas anderes lernen: dass Timon von Athen bereits 1601 aufgeführt worden sein muss. Und da das sogenannte Maskenspiel in Timon von Athen in eine Szene fällt, die nicht von Shakespeare geschrieben wurde...

Shapiros Argumentationsmunition besteht aus nur drei Patronen, Platzpatronen.
Im Übrigen befindet sich das Shakespeare-Handbuch in Sachen Timon von Athen (S. 563 ff.) auf dem letzten Rückstand der etablierten Wissenschaft.

© Robert Detobel 2010