Shapiro-Tagebuch (11) Exkurs: Gab es einen "Ur-Timon"?

In seiner Maskenspiel-Phantasie behauptet Shapiro

  • im Timon von Athen zeige sich durch die Einbeziehung eines Maskenspiels eine Stiländerung der Shakespeare-Dramen
  • das Drama sei 1605 entstanden.

Wie in den vorangehende Tagebuchabschnitten gezeigt wurde

  • stammt die in Frage kommende Szene nicht von Shakespeare, sondern von Thomas Middleton
  • ist das Drama zweifelsfrei schon vor 1601 entstanden.

Shapiros Argumentationslinie fällt also in sich zusammen. Aber welche Stellung nimmt das Drama Timon von Athen im Gesamtwerk ein und welche Rolle spielt Middelton? Diesen Fragen widmet sich der folgende Exkurs.

In einem unveröffentlichten Manuskript weist Earl Showerman auf das 2004 von John Jowett für die Oxford-Reihe herausgegebene Shakespeare-Stück The Life of Timon of Athens hin. Jowett ist bisher der einzige Herausgeber des Stückes, der die Existenz eines frühen Timon-Stückes erwähnt. Der Schriftsteller William Warner schreibt in dem Vorwort zu seinem 1584 erscheinenden Werk Syrinx or A Sevenfold History:

„And yet, let his coy prophetess presage hard events, let the Athenian
misanthropos or man hater bite on the stage, or the Sinopian cynic bark with
the stationer; yet, in Pan his Syrinx will I pipe at the least to myself."

Der Zyniker aus Sinope, der mit dem "Stationer" bellt, ist Diogenes von Sinope, der zynische Philosoph, die Hauptfigur der Nebenhandlung in John Lylys Stück Campaspe, das sowohl bei Hofe wie im Blackfriars-Theater von den vereinigten Kinderensembles „Her Majesties Children" und „The Children of Paul's" aufgeführt wurde. Die „Children of the Chapel" mussten das Blackfriars-Theater um Ostern 1584 verlassen, weil der Eigentümer, der dem Theaterbetrieb nicht gewogen war, die Räumlichkeiten selber bezog. Tatsächlich wurde Campaspe bei Hofe am Neujahrstag und am Fastnachtsdienstag 1584 aufgeführt (Albert Feuillerat, Documents Relating to the Office of the Revels in the Time of Queen Elizabeth, Louvain 1908, S. 470). Dass der Zyniker aus Sinope mit dem „Stationer" (der Begriff umfasste Verleger, Drucker, Buchhändler und Buchbinder) bellt - das Wort Zyniker ist vom griechischen Wort „kynos" für Hund abgeleitet -, bedeutet nichts anderes, als dass Lylys Campaspe im Jahr 1584 gedruckt worden war.

Eine andere Bezeichnung für die vereinten Ensembles „Her Majesties Children" und „Children of Paul's" war „Oxford's Boys".

„Ohne Zweifel arbeiteten Hunnis, Lyly und [Henry] Evans alle zusammen unter der Schirmherrschaft des Earl [of Oxford], denn ein Kinderensemble unter Oxfords Namen wurde im Winter 1583-4 von Lyly und im Winter 1584-5 von Evans zum Hof geführt, und es scheint recht deutlich zu sein, das auf jeden Fall 1583-4 sich Oxfords Ensemble aus den Kindern von der Chapel und Pauls's zusammensetzte." (E. K. Chambers, The Elizabethan Stage, Band I, Oxford 1923, S. 497)

Diese Oxford's Boys waren es dann, die am 27. Dezember 1584 das Stück The History of Agamemnon & Ulysses bei Hofe aufführten. Feuillerat vertritt die Ansicht, dass es sich um eines von Oxfords verloren gegangenen Stücken handeln muss. Wie dem auch sei, kaum daran zu zweifeln ist, dass Warners Anspielung auf die „coy prophetess" sich auf dieses Stück bezieht. Kurt Kreiler wies in einer privaten Korrespondenz darauf hin, dass es sich hier nur um die „scheue Prophetin" Kassandra handeln könne, die Apollons Liebeswerben abwies, worauf dieser sie bestrafte, indem er ihr zwar die Gabe verlieh, die Zukunft vorauszusagen, aber zugleich verfügte, dass niemand ihren Wahrsagungen Glauben schenken würde. Warner muss daher das Stück Agamemnon und Ulysses gemeint haben.

Und Warner zufolge muss um dieselbe Zeit, 1584 oder kurz davor, auch den misanthropen oder Menschen hassenden Timon auf die Bühne gebracht worden sein. Es ist nicht vermessen anzunehmen, dass dieses Timon-Stück ebenfalls von den vereinten Ensembles „Her Majesty's Children" und „Children of Paul's", auch „Oxford's Boys" genannt, aufgeführt worden ist.

Doch wie kam um 1601 Thomas Middleton ins Spiel?

Ich schlage folgendes Szenario vor. Zugegeben, es ist ein Szenario, aber es hat im Gegensatz zu Shapiros völlig luftiger Behauptung, Timon wäre nach 1605 zur Aufführung im Globe-Theater geschrieben, einige unterstützende Fakten für sich.

Vorweg sei noch einiges zu Shapiros ziemlich absurden Versuch, so etwas wie ein „spezifisch jakobeanisches" Maskenspiel einzuführen.

Das Maskenspiel war auch schon unter Heinrich VIII. (möglicherweise auch bereits früher) eine beliebte Unterhaltung. So auch unter Elisabeth I. Roy Strong (The Elizabeth Cult, London 1977, S. 29-30) zitiert aus einem zeitgenössischen Brief eine Anekdote im Zusammenhang mit einem Maskenspiel anlässlich der Hochzeit von Lord Henry Somerset und Lady Anne Russel. Acht Hofdamen tanzten ein Maskenspiel unter der Führung der Hofdame Mary Fitton. Offenbar sollen dabei irgendwelche Charakterzüge oder Temperamente personifiziert werden. Mary Fitton versinnbildlichte die „Zuneigung" („Affection"). Zuneigung, soll die Königin ihr etwas verbittert entgegengehalten haben, sei falsch. Die Bemerkung zielte wohl auf den Grafen von Essex, der in Ungnaden gefallen war und einige Monate später den Aufstand proben würde, vorher aber durch glühende Liebesbezeugungen versuchte, wieder die Gunst der Königin zu erlangen.

Viel mehr ist über Maskenspiele aus dem letzten Drittel von Elisabeth' Regierungszeit nicht bekannt. Um so mehr aus der Zeit zwischen November 1558 (Thronbesteigung) und September 1589. Für diese Periode sind die Dokumente des „Office of the Revels" (siehe oben Feuillerat) erhalten. In dieser Zeit wurden bei Hofe über fünfzig Maskenspiele aufgeführt, von 1558 bis 1570 weitaus mehr als Bühnenstücke. Erst ab etwa 1574 beginnen die Bühnenstücke zu überwiegen.

Am 11. Januar 1579 findet sich ein Eintrag „A Maske of Amazones". Könnte dies das in Timon von Athen nur als Regieanweisung erwähnte Maskenspiel gewesen sein? Letztlich spielt es keine große Rolle, ob es dieses oder ein anderes Amazonen-Maskenspiel war. Wir sollten in Erinnerung rufen, dass in Timon von Athen, wie es auf uns gekommen ist, in einer Szene, die Thomas Middleton zuzuschreiben ist, in Wirklichkeit ein Maskenspiel von Damen, die zwar als Amazonen verkleidet sind, nicht aber die Amazone zum Thema haben, sondern die fünf Sinne. Aus dem englischen Originaltext geht dies noch deutlicher hervor als aus der deutschen Übersetzung von Dorothea Tieck, die gemäß der ersten Folioausgabe nur „Geschmack" und „Gefühl" übersetzt. Im englischen Text heißt es: „There, taste, touch, all pleas'd from thy table rise;/They only know come but to feast thine eye." Hier haben wir drei Sinne: Geschmack, Tastsinn, Auge. Einige spätere Herausgeber haben, sicher nicht ganz zu Unrecht, die Zahl der Sinne ergänzt. Theobald interpretierte „there" als „the ear". Nicholas Rowe fügte „smell", „Geruch" hinzu. Unberechtigt scheint dies nicht, ist doch von den fünf Sinnen die Rede. Doch außer in der Ankündigung von Cupido ist von einem Maskenspiel der fünf Sinne nichts zu bemerken.

In Feuillerats Liste der Stücke, Maskenspiele und sonstigen Darbietungen bietet sich ein Stück als Kandidat für ein Stück über Timon an: A Moral of the Marriage of Mind and Measure. Auf die Nähe von Timon von Athen zu einer Moralität haben mehrere Autoren hingewiesen. Und die Maßlosigkeit, die Unfähigkeit, den goldenen Mittelweg zu gehen, ist das, was Apemantus in den zweifelsohne von Shakespeare geschriebenen Teilen des vierten Aktes Timon vorwirft. Ein Nachteil ist vielleicht, dass es relativ früh bei Hofe aufgeführt wurde, nämlich am 4. Januar 1579. Ein Vorteil ist wiederum, dass es einerseits von the Children of Paul's und anderseits in der gleichen Spielzeit wie „A Mask of Amazones" aufgeführt wurde.

Nehmen wir nun an, die Children of Paul's hätten in ihrem Besitz ein Manuskript über ein Timon-Stück. Es ist ein anonymes Manuskript. Darin ist als Regieanweisung ein Maskenspiel von Amazonen angegeben, jedoch nicht weiter spezifiziert. Das ist keine Seltenheit. Selbst gedruckte Texte, von John Lyly und Anthony Munday etwa, enthalten gelegentlich die Anweisung „Song", doch es ist kein Liedertext erwähnt. Die Children of Paul's lösen sich 1589 auf, bilden sich aber 1599 neu. Thomas Middleton schreibt für sie (wie auch für andere Ensembles). Das Timon-Manuskript ist unvollständig und es müssen Szenen hinzugeschrieben werden, um den Text auf volle Spiellänge zu bringen. Middleton wird 1601 damit beauftragt.

Seine Aufgabe löst er nicht sehr zufriedenstellend, gelegentlich etwas schlampig (was er auch ansonsten gelegentlich war). Er sieht die Regieanweisung „Maskenspiel der Amazonen". Eine solche Regieanweisung hätte 1579 gereicht, weil ein solches Maskenspiel im selben Jahr auf dem Programm stand. Middleton fällt dann nichts anderes ein als ein Maskenspiel der fünf Sinne, gespielt von Damen, die als Amazonen auftreten.

Er war auch in IV.3 etwas sorglos. Dort sagt Apemantus: „Drüben kommen der Dichter und der Maler" (Zeile 353). Aber der Dichter und Maler kommen erst zu Anfang des fünften Akts, ungefähr 200 Zeilen später.

Dieses Szenario hat mehrere Vorzüge. Man braucht nicht mehr anzunehmen, Shakespeare hätte das Stück im unfertigen Zustand abgebrochen. Das Stück wäre eine kürzere Moralität, die 1601 von Middleton etwas ungelenk auf volle Spiellänge aufgefüllt worden wäre.

Die herrschende Meinung war dies lange nicht. Schottet man jedoch die herrschende Meinung, die sich gern als etablierten Stand des... was? der Wissenschaft gibt, gegen neue Ideen ab, landet man womöglich bald beim wiedergekäuten Ondit. Schade um den, der sich dabei auch noch wohlig in der Rhetorik suhlt.

Auf jeden Fall: Wir nähern uns mit diesem Szenario dem allzu sehr unterschätzten und verdammten G. F. Fleay (siehe Shapiro-Tagebuch - 9), der, man denke dran, den zweiten Autor richtig als den Verfasser der Revenger's Tragedy identifizierte. Fleay stellte auch die These auf, der zweite Autor sei der jüngere und hätte ein ursprüngliches Shakespeare-Stück aufgefüllt.

© Robert Detobel 2010