Shapiro-Tagebuch (14) Cardenio

Ein Stück mit dem Titel Cardenio wurde, es sei daran erinnert, 1613 von den King's Men, Shakespeares Ensemble, nachweislich im Winter 1612-13 und am 8. Juni 1613 aufgeführt (Chambers, Shakespeare, Oxford 1930, Band I, S. 539 - 42, Band II, S. 343). Es basiert auf der Geschichte von Cardenio und Lucinde im 29. Kapitel des ersten Buches von Don Quixote, das 1612 von Thomas Shelton ins Englische übersetzt wurde. Dass das Stück Cardenio in der Originalfassung auf der englischen Übersetzung beruhte, ist wahrscheinlich, kann aber nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden: eine zeitgenössische gedruckte Ausgabe besteht nicht, das Manuskript gilt als verloren.

Wie im Beitrag 13 erwähnt, behauptete der Shakespeare-Forscher Lewis Theobald Anfang des 18. Jahrhunderts im Besitz dreier verschiedener Manuskripte zu sein, anhand deren er 1727 ein Stück verfasste oder rekonstruierte, das 1727 unter dem Titel Double Falsehood aufgeführt wurde. Theobald behauptete auch, es handele sich um ein Shakespeare-Stück. Theobalds ursprünglicher Glaube, es müsse sich um ein Shakespeare-Stück handeln, beruht auf einer mündlichen Überlieferung, derzufolge Shakespeare das Stück für seine außereheliche Tochter geschrieben hätte. Von einer solchen ist bisher nichts bekannt geworden, und man wundert sich ein wenig, dass dieselbige noch nicht in den Spekulationen um Shakespeare aufgekreuzt ist. Aber vielleicht steht dieses Ereignis, einschließlich DNA-Test, kurz bevor.

Chambers befindet über das Stück:

„Das Stück selbst ist, so wie wir es haben, äußerst armselig. Während ich Spuren erkennen kann, die wohl auf Fletcher hindeuten könnten, vermag ich keine einzige Stelle zu erkennen, die glaubhaft Shakespeare zugeschrieben werden könnte. Hier und dort befinden sich einige Zeilen, die er in einer uninspirierten Verfassung geschrieben haben mag." (I.542).

Schon bei der Aufführung des Stückes Double Falsehood, der ein Jahr später der Druck folgte, sah sich Theobald dem Verdacht ausgesetzt, es handele sich in Wirklichkeit um eine „triple falsehood", m. a. W. um seine Fälschung. Merkwürdig ist in der Tat, dass er als Shakespeare-Forscher nie für nötig befand, die Manuskripte zu veröffentlichen. Niemand weiß, wo sie geblieben sind. Haben sie überhaupt existiert?

Die Frage muss man wohl bejahen. Denn Theobald stand seinerzeit keine Information über die Aufführung des Stückes im Winter und Juni 1613 zur Verfügung. Er wusste auch noch nichts von einer Zusammenarbeit zwischen Shakespeare und Fletcher. Jonathan Bate (The Genius of Shakespeare, London 1997, S. 75ff) vermutet, dass er später Fletchers Stil erkannte und es deshalb nicht in seine Gesamtausgabe von Shakespeares Werken aufnahm. Es mag dies auch erklären, warum er letzten Endes die Manuskripte nicht veröffentlichte. Bate räumt ein, dass nur hier und dort Shakespeares Hand zu erkennen sei, beharrt dennoch auf gewissen Parallelen, führt aber lediglich vier Zeilen explizit an, die ihm, Bate, zufolge, so muss man wohl annehmen, am deutlichsten für Shakespeare sprechen: die Zeilen 54 - 57 aus Akt I, Szene 3:

What you can say is most unseasonable; what sing
Most absonant and harsh; nay, your perfume,
Which I smelll hither, cheers not my sense
Like our field-violet's breath.

Bate schließt, dass das im 16. Jahrhundert seltene Wort „absonant" und das Eigentümliche der Einbildungskraft, das aus dem zusammengesetzten Wort „field-violet" spricht, auf Shakespeare hinweist, der nicht simpel (plain heißt es im Originalton - im Sinne von „einzeln stehend") „violet" schreibe. Dies verrate Shakespeares authentischen Spätstil. Lauschen wir doch dem Originalton:

„The rare sixteenth-century word 'absonant' (meaning discordant) and the specificity of imagination which chooses 'field-violet' rather than plain 'violet': these do not have the feel of decorous eighteenth-century imitation, they sound the authentically late-Shakespearean note." (S. 81).

Das Wort „absonant", das hier wohl eher als „dissonant" denn als „discordant" zu verstehen ist, kommt bei Shakespeare kein einziges Mal vor, das Wort „violet" dagegen sechszehn Mal... und sechszehn Mal vollkommen plain, d. h. einfach (einzeln stehend) „violet"! Das Eigentümliche seiner Imagination hätte Shakespeare demnach nur in dieser einen Zeile voll entfaltet. Das Adverb „hither" („hieher") kommt bei Shakespeare immer nur in Verbindung mit Verben der Bewegung vor: „come", „send", nicht mit „Geruch" oder „riechen". Der Sprecher im Stück „riecht den Duft herüber". Es sei denn, er hätte irgendwie gleichzeitig zum Ausdruck bringen wollen, dass ihm die Nase läuft.

Auf jeden Fall wird man nicht zu behaupten wagen: „Shakespeare's perfume smells hither" aus diesen vier Zeilen, die recht stümperhaft sind (wie auch vieles andere in dem Stück). Dennoch bemüht Bate viel Stückwerk, das Stück als Werk Shakespeares zu retten. Einen Grund erfahren wir auf Seite 80: „Die Tatsache, dass das Original von Cardenio nicht vor 1612 geschrieben sein kann, ist nebenbei ein weiterer Nagel im Sarg Oxfords als mutmaßlicher Verfasser von Shakespeare."

Shapiro folgt Bate in der Zuschreibung. Und er bejaht auch Bates anderes Theorem: „Die Tatsache einer Zusammenarbeit ist einer der mächtigsten Beweise dafür, dass der Verfasser von Shakespeares Stücken wie übrigens die Verfasser aller anderen öffentlich aufgeführten Stücke der Zeit ein professioneller Schrifsteller und kein Aristokrat war." (S. 81) Shapiro sekundiert: „Es ist unmöglich sich vorzustellen, dass einer ihrer [der anti-Stratfordianer, vor allem wohl der Oxfordianer; meine Anmerkung] Aristokraten oder Hofmänner mit einer Reihe von Stückeschreibern niedriger Herkunft mehr oder weniger als ihrergleichen zusammengearbeitet hätte." „It's impossible to picture any of their aristocrats or courtiers working as more or less equals with a string of lowly playwrights." (S. 294)

Es wird in den nächsten Beiträgen zu prüfen sein, ob Bates und Shapiros Vorstellung von Aristokratie geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Es wird danach auch zu fragen sein, wie sie sich einen professionellen Schriftsteller im 16. und 17. Jahrhundert bei einem nur dürftig ausgebildeten Markt und der Dominanz des Mäzenats vorstellen.

© Robert Detobel 2010