Shapiro-Tagebuch (17) Sonett 29

Shapiro streitet jeden persönlichen Bezug des Dichters zu seinem Werk ab. Ein Verständnis der Sonette wird damit verhindert.

When in disgrace with Fortune and men's eyes,
I all alone beweep my outcast state,
And trouble deaf heaven with my bootless cries,
And look upon my self and curse my fate,
Wishing me like to one more rich in hope,
Featured like him, like him with friends possessed,
Desiring this man's art, and that man's scope,
With what I most enjoy contented least,
Yet in these thoughts my self almost despising,
Haply I think on thee, and then my state,
(Like to the lark at break of day arising
From sullen earth) sings hymns at heaven's gate,
For thy sweet love remembered such wealth brings,
That then I scorn to change my state with kings.

In Prosa übersetzt:

Wenn in der Ungunst der Göttin Fortuna und der Augen der Menschen, ich einsam mein Ausgestoßensein beweine und den tauben Himmel mit meinen nutzlosen Schreien störe, und mich selbst betrachte und mein Los verfluche, und ich wünsche, ich möchte mehr wie einer mit mehr Hoffnung sein, mit einem Auftreten wie dieser, möchte Freunde haben wie dieser, dann begehre ich die Art und den Wirkungsraum eines solchen Menschen und bin am wenigsten zufrieden mit dem, das mich am meisten erfreut.
Dennoch, bei diesen Gedanken, in denen ich mich selbst fast verachte, denke ich glücklicherweise an Dich, und dann erhebt sich mein Status, wie die Lerche bei Tagesanbruch hoch steigt von der dumpfen Erde und Hymnen singt am Himmelstor.
Denn Dein erinnertes liebes Wesen bringt mir solchen Reichtum, dass ich es verschmähe, meinen Status mit Königen zu tauschen.

Helen Vendler (The Art of Shakespeare's Sonnets, Cambridge, MA, and London 1997, schreibt dazu:

"Das Sonett beginnt mit einem großen eröffnenden Gegensatz zweier Modelle der „Wirklichkeit" (nach renaissancistischer Anschauung), die vom Sprecher aufgerufen werden, um seine eigene Position zu definieren: die hierarchische soziale Welt und die in deren Nachahmung hierarchisch konzipierte Welt der Natur."

Im Lichte des vorigen Eintrags (16), insbesondere der Verweise auf die ungeschriebenen Gesetze der „honnêtes gens" des französischen Moralisten Pierre Nicole und Norbert Elias' Begriff der „guten Gesellschaft", erkennen wir diese reale soziale Welt genauer: Es ist die Welt des Hofes des 16. und 17. Jahrhunderts, in der fürstliche Gunst und Status in großem Maße von der Meinung der anderen Angehörigen dieser „guten Gesellschaft" bestimmt waren. Es ist die „gute Gesellschaft" am Hofe der Herzöge von Ferrara, aus der Torquato Tasso, Hofmann und Dicher, in die Irrenanstalt ausgestoßen wurde, als er die Kontrolle über sich selbst verlor und dem Herzog persönlich mit wütenden Vorwürfen bedachte. Alles spricht dafür, dass der Dichter des Sonetts 29 wegen irgendeines Vorfalls oder als nicht „honest" oder „civil" erachteten Verhaltens von den Anderen ausgegrenzt worden ist („outcast state") ,weil er in ihren Augen nicht mehr tragfähig war („in disgrace with Fortune and men's eyes").

Weiter bemerkt Vendler:

„Wie häufig in Shakespeare wird das analytische Moment (hier Zeile 8) des Sonettes zum Scharnier der Änderung. Der aktive Narrativ... erreicht ein überwältigendes Moment der Selbstanalyse... Das auffällige chiastische Paradox - most enjoy contented least - zwingt uns durch die Hervorhebung der zwei thematischen Verben enjoy und contented und die beiden adverbialen Klammern most und least zu erkennen, dass der Sprecher implizit innerlich Bilanz gezogen hat."

Bei diesen beiden Zeilen:

(7) Desiring this man's art, and that man's scope,
(8) With what I most enjoy contented least,

lohnt es sich zu verweilen.

Ein sehr ähnliches Paradox, wenn auch nicht chiastisch, kehrt regelmäßig wieder in dem Edward de Vere zugeschriebenen Gedicht „Winged with desire". Die zweite Strophe:

I still do toil, and never am at rest,
Enjoying least when I do fancy most,
With weary thoughts are my green years oppressed,
To danger drawn from my desired coast;
  Now crazed with care, then hauled up by hope,
  With world at will, yet want I wished scope.

Eine deutsche Übersetzung hat Kurt Kreiler besorgt (The Poems of Edward de Vere - Die Gedichte Edward de Veres, Buchholz i.d.N. 2005, S. 64-67). Um unbehindert von den Zwängen von Reim und Metrik, so nahe wie möglich beim Original bleiben zu können, ziehen wir auch hier eine Prosaübersetzung vor:

„Ich härme mich nach wie vor ab und komme nie zu Ruhe, am wenigsten erfreut, wenn ich es am meisten erwarte. Mit zehrenden Gedanken sind meine grünen Jahre unterdrückt, von meiner erhofften Küste zu Gefahren weggezogen; bald vor Sorgen irre, bald von Hoffnung hochgezogen, mit Welt nach Belieben, und doch fehlt der gewünschte Raum."

Das Paradox kehrt zweimal wieder. In der zweiten Zeile der vierten Strophe: „With least abode where best I feel content" („Wo ich mich am besten zufrieden fühle, habe ich am wenigsten Bleibe") und in der zweiten Zeile der fünften Strophe: „Then least alone when most I seem to lurk" („Dann am wenigsten einsam, wenn ich mich am meisten heimlich herumtreibe").

„Welt nach Belieben, und doch fehlt mir der Raum", erinnert unweigerlich an Hamlet, dem Königssohn, dem ganz Dänemark ein Gefängnis dünkt, der sich aber in einer Nußschale König eines unermeßlichen Reiches wähnen könnte. Es gab in der Antike diesen Mythos, dass Homers Ilias in einer Fassung bestand, die in einer Nußschale Platz fand. Das Bild mag Shakespeare inspiriert haben, denn ohne Zweifel fühlt sich Hamlet in der Welt der Kunst zuhause, was ihm die reale soziale Welt als beengt erscheinen lässt. Ist dieser Raum, dieser ihm fehlende „scope", von dem de Vere in diesem Gedicht spricht, die Welt der Kunst, zu der ihm als Höfling der Zugang teilweise verbaut ist, während die andere Welt, die soziale Welt, sich weit vor ihm ausbreitet? Und war es das, was Shakespeare in der achten Zeile meint mit „With what I most enjoy contented least" („Woran ich mich am meisten erfreue, stellt mich am wenigsten zufrieden")?

Helen Vendler geht darauf nicht ein. Sie hat diese Thematik von vornherein aus ihrer Analyse verbannt, und, es sei gesagt, wir verdanken dieser ihrer Selbstbeschränkung auf Shakespeares „ästhetische Strategie" das womöglich großartigste Werk über Shakespeares Sonette.

Dennoch impliziert ihr Kommentar, dass es sich beim Dichter (als „Sprecher" bezeichnet sie ihn) um eine reale Erfahrung handelt. „The drama of the poem occurs in the speaker's moving himself out of the first (social) world and into the second (natural one) ..." (S. 161). "Das Drama des Gedichts ereignet sich, als sich der Sprecher selbst aus der ersten (sozialen) Welt zurückzieht in die zweite (natürliche) Welt." Allerdings ist hier zu ergänzen, dass der Sprecher weniger „move out himself", sich selbst zurückzieht, als dass er „removed", entfernt worden ist durch „men's eyes" in den Status eines „outcast".

Für Shapiro dagegen ist hier gar nichts passiert. Der Sprecher hat sich das alles in einer wahren Orgie der Phantasie ausgedacht. Sein Buch ist nicht so sehr ein beredtes Plädoyer für Shakespeare aus Stratford als der Versuch, eine uralte Mumie durch Mund-zu-Mund-Beatmung zum Leben zu erwecken.

Wenn wir das Sonett als das eines dichterisch hoch veranlagten Hofmannes begreifen, der in ästhetischem Überschwang die Grenzen des höfischen Verhaltensethikodexes überschritten hat und, zumindest zeitweilig, ausgestoßen wurde, kommen wir nicht nur dem Drama des Gedichts, sondern vielleicht auch dem Drama des Dichters ein gutes Stück näher. Wenn wir annehmen, dass dieser Hofmann Edward de Vere ist, gar noch ein Stückchen näher.

Eine Probe aufs Exempel.

„Wir wissen also, daß Oxford sowohl arm als auch lahm war, und wir wissen, daß er demzufolge verachtet wurde. Als Königin Elisabeth im Sterben lag, versuchte der Graf von Lincoln Oxford zur Teilnahme an irgendeiner Art von Oppositionsbewegung gegen König Jakob zu gewinnen. Sir John Peyton, Lieutenant des Londoner Tower, deckte Lincolns Umtriebe auf, meldete sie aber nicht weiter. Peyton entschuldigte diese Pflichtvergessenheit damit, daß er die Sache ernst genommen habe, bis er entdeckte, daß Lincolns angeblicher Komplize Oxford war, über den er folgendes Urteil abgab (meine Hervorhebung): 'Ich wußte ihn so körperlich schwach, ohne Freunde oder Fähigkeiten oder irgendwelche Mittel, Aufruhr im Staate zu stiften, daß ich niemals befürchtete, von so schwachen Grundlagen würde ein Gefahr ausgehen... Peytons Worte verdienen eine nähere Betrachtung. Er nennt Oxford körperlich schwach... Peyton bemerkt als nächstes, Oxford habe keine Freunde..." (

Peter Moore, „Der lahme Geschichtenerzähler, arm und verachtet" in NSJ, Band 8, 2003, S. 16; englischer Originaltext in Peter Moore, The Lame Storyteller, Poor and Despised - Studies in Shakespeare, Buchholz i.d.N., 2009, S. 239-40).

Ohne Freunde. Wie der Dichter des Sonnets 29, der sich wünscht zu sein „with friends possessed". Karl Lachmann übersetzt: „umringt von Freunden so". Doch eigentlich wünscht sich der Dichter, er besäße Freunde: er hatte keine, nicht viele auf jeden Fall.

© Robert Detobel 2010