Shapiro-Tagebuch (16) Exkurs: Adel, „honesty" und der adelnde Blick der Anderen

Shapiros Umgang mit  dem historischen Hintergrund des 16. und 17. Jahhunderts ist bestenfalls als oberflächlich zu bezeichnen. Seine Fehlschlüsse werden durch einen weitern Exkurs sichtbar.

Shapiro fordert vehement und etwas hochtönend die sozialhistorische Perspektive ein, aber sein Bild einer aristokratischen Gesellschaft lehnt sich näher an die Genealogie als an die geschichtliche Realität an. Zwingender noch als die Nächstenliebe beginnt die Erkenntnis mit sich selbst. Man muss Shapiro und Bate empfehlen, statt ihren Nächsten zu belehren, selbst in die sozialhistorische Lehre zu gehen.

Aristokratie

Anfang des 15. Jahrhunderts war die politische Führungsrolle der Aristokratie keinesfalls mehr unumstritten. Sir Thomas More (1478-1535), zeitweilig Lordkanzler, betrachtete sie als eine politisch überflüssige oder gar schädliche Schicht. Zu den von ihm kritisierten Verhaltensweisen der englischen Aristokratie zählte auch deren Bildungsfeindlichkeit. Die Franzosen (gemeint ist der französiche Adel), schreibt Baldesar Castiglione im Buch vom Hofmann, würden nur den Adel der Waffen kennen und alles übrige für nichts achten, so daß sie die Wissenschaften nicht allein nicht schätzen, sondern verabscheuen und alle gelehrten Menschen für höchst niedrige Personen halten; und es erscheint ihnen als großer Schimpf, wenn man, wer es auch sei, «clerc» genannt wird." (Buch I, xlii, Übersetzung von  Fritz Baumgart, München 1986). Doch selbst in Italien zu Zeiten Castigliones (sein Buch wurde 1524 gedruckt, jedoch mehrere Jahre vorher geschrieben) war der säbelrasselnde Typus des Aristokraten, der überall erzählte, „er habe die Waffen zu seinem Weibe gewählt" (I, xvii)  noch nicht so sehr passé, dass er nicht als Kontrast zum gebildeten und verfeinerten idealen Hofmann ins Bild gerückt werden konnte.

Schon Mitte des 15.  Jahrhunderts hatte der Humanist Leon Batista Alberti (Vom Hauswesen (Della Famiglia), übersetzt von Walter Kraus, München 1986, S. 85) diese bildungsfeindliche Haltung eines Teils des Adels getadelt:

„Wer wüßte nicht, daß das erste, was not tut, die Geistesbildung ist; so sehr, daß selbst ein geborener Edelmann ohne Bildung nur für einen Tölpel gelten wird! Ich für meine Person wünschte die jungen Edlen öfter mit einem Buch in der Hand als mit dem Falken auf der Faust zu sehen; keineswegs gefällt mir der gemeine Gebrauch mancher, die da sagen: Vollauf genug, wenn du deinen Namen schreiben kannst und zusammenzurechnen weißt, was man dir schuldig ist."

Adel und Bildung

Diese bildungsfeindliche Haltung in großen Teilen des Adels überwog in England noch im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. 1517 berichtet der englische Humanist Richard Pace, dass er in einem Gespräch mit einem Gentleman über die Erziehung zu hören bekam, es gehöre sich für den Sohn eines Edelmannes, gekonnt ein Horn zu blasen, geschickt zu jagen und einen Falken elegant zu tragen und abzurichten. Lieber sähe er seinen Sohn gehängt als gebildet, denn alle gebildeten Leute seien Bettler. „Sie sind ein Tölpel", ruft Leon Batista Alberti ihm aus der Distanz von siebzig Jahren hinterher. „Und Sie ein Bettler", schallt es zurück.

Zum weiteren Verständnis ist das, was der französische Hugenottenführer François de la Noue schreibt sehr aufschlussreich (hier).

Am Beispiel der Ronsards (zum Hintergrund: hier) können wir zwei Kriterien für die Zugehörigkeit zum Adel gewinnen:

  • Verzicht auf gewerbemäßig erzieltes Einkommen und
  • eine bestimmte Lebensführung, nicht aber: adelige Tradition, denn Pierre de Ronsards Vater war der erste Adelige in seiner Abstammungslinie.

Gemeine und Adelige

Das Vorbild der Ronsards zeigt, dass es für einen Gemeinen relativ leicht sein konnte, in den Adel aufzusteigen. In England wurde aus dem Londoner Händler Lionel Cranfield der Earl of Middlesex und Lord Treasurer. Was Cranfield, einmal in den Dienst des Königs getreten, nicht mehr konnte, war weiterhin den Händlerberuf ausüben. Aber die Linie zwischen Gemeinen und Adeligen war kein undurchdringlicher eiserner Vorhang. Warum sollte ein Adeliger zum Beispiel nicht mit dem Schriftsteller John Fletcher zusammenarbeiten, wie Shapiro und Bate mit einem Flair tieferen Einblicks behaupten? John Fletcher war der Sohn von Richard, Bischof von London von 1595-96, nach dem Erzbischof von Canterbury der ranghöchste Bischof. Bischöfe hatten Sitz im House of Lords (Oberhaus). Mit ebenso viel, wenn nicht mehr Berechtigung könnte man fragen, wie es John Fletcher mit seiner Abstammung vereinbaren konnte, mit dem Kleinhändler Shakesper aus Stratford zusammenzuarbeiten.

Kehren wir zurück zu de la Noues „choses honnestes" und unserem unbekannten Gentleman, der seinen Sohn lieber gehängt als gebildet sähe. (Zum Hintergrund siehe hier) Ihm und seinen adeligen Gesinnungsgenossen werden 1531 von Sir Thomas Elyot in The Book of the Governor die Leviten gelesen. Das Erziehungshandbuch richtet sich an die künftigen „governors", d. h. politischen Führer. Die Empfehlungen Elyots lassen sich in einem Satz zusammenfassen: um ein „governor" zu sein, soll sich der Adelige bilden und sein Verhalten sollte „honest" sein. Oder negativ lautet die Botschaft an unseren unbekannten Gentleman: Wenn Sie solche Ansichten nicht gründlich korrigieren, werden Sie die längste Zeit als Gentleman gegolten haben. Von Jagd und Falknerei ist eher nebenbei die Rede. Die Falknerei betrachtet Elyot als eine Freizeitbeschäftigung, die „honest" ist. Auch der Tanz, gewisse Spiele. Was aber ist hier mit „honest" gemeint?

„honesty"

Ein Blick in Cotgraves Französisch-Englisches Wörterbuch (1611 erschienen) unter dem Eintrag „honneste" ist aufschlussreich. Es sind nicht weniger als siebzehn Bedeutungen angegeben: ehrenhaft, gut, tugendhaft; gerecht, aufrecht, aufrichtig; „gentle" (hier wohl eher in der Bedeutung von „adelig" oder „wohlerzogen" als von „freundlich"), zivil, höflich, würdig, nobel, ehrenwert, von gutem Ruf, trefflich, schicklich, gut aussehend, geziemend. Die Adjektive „honest" und „civil" und die entsprechenden Substantive sind übrigens praktisch gleichbedeutend. Man könnte die Reihe auch noch um einige Bedeutungen verlängern: sich selbst beherrschend, wer seine Leidenschaften unter Kontrolle hat, gemäßigt, wer den Mittelweg beschreitet, usw.  

 „Honest" ist vom lateinischen Wort „honestas" für „Ehre" abgeleitet und wird auch so übersetzt in der zweisprachigen Ausgabe von Ciceros De officiis, auf den sich Elyot mehrmals beruft und auf den das Konzept letztendlich zurückgeht: „Denn was schicklich [decet] ist, ist ehrenhaft [honestum] und was ehrenhaft ist, ist schicklich. (Vom pflichtgemässen Handeln. Übersetzt von Heinz Gunermann, Buch I.27, Stuttgart 1992). Das Schickliche wird in der zeitgenössischen englischen Literatur oft als „decorum" bezeichnet. Der Begriff „honesty" ist im Englischen (wie auch im Französischen) nicht gleichzusetzen mit „honour", der alten feudalen Ehre. Diese geht zwar nicht unter und lebt u. a. in der Institution des Duells fort, aber damit der Aristokrat seine Eignung als politischer Führer unter Beweis stellt, kommt es Elyot zufolge zuvörderst auf „honesty" an, ein Begriff, den Elyot über zwanzigmal benutzt und den man desto genauer erfasst, je weiter man ihn auslegt, etwa: „sich so verhalten, wie es sich gehört". In den 1580er Jahren tritt, vermutlich im Zuge von Stefano Guazzos 1581 ins Englische übersetzte La Civil Conversazione (zu verstehen als „Das zivile Verhalten", nicht „Konversation") das Wort „civility" gleichwertig neben „honesty". Guazzo versteht die beiden Begriffe identisch: "E "conversazione civile" non vuol dire altro che conversazione "onesta, lodevole e virtuosa". („Und ziviles Verhalten bedeutet nichts anderes als ehrenhaftes, lobenswertes und tugendhaftes Verhalten").

Römische Aristokraten

Obwohl nicht ausdrücklich ausgewiesen, ist in Elyots Buch auch der Einfluss von Tacitus bemerkbar, vor allem des 14. Buches seiner Annalen, das von Kaiser Nero handelt, zumal von dessen frenetischer Neigung, im Theater öffentlich als Sänger und Spieler aufzutreten. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Frankfurt/Main 19070, S. 357) bemerkt Hegel:

„Das Schimpflichste, was Nero getan, war, daß er auf dem öffentlichen Theater als Sänger, Zitherspieler, Kämpfer aufgetreten ist. Indem die Römer nur Zuschauer waren, so war ihnen das Spiel ein fremdes, sie waren nicht selbst im Geiste dabei."

Liest man Tacitus, so muss Hegels Bemerkung doch leicht korrigiert werden. Gesang und Spiel, auch das Schauspiel, waren dem römischen Aristokraten durchaus gestattet, jedoch nur innerhalb der Privatsphäre, nicht vor den Augen des breiten Publikums, des „Vulgos". Nach seinem Rücktritt als Diktator erging sich Sulla in der Schaupielerei, allerdings nur privat. Selbst Tacitus wirft Nero nicht sein Spiel vor, solange er damit nicht vor die Öffentlichkeit tritt.

Der römische Aristokrat soll Handlungen wie Singen und Schauspielen der Privatsphäre vorbehalten, sich dabei jedoch niemals den Blicken des gemeinen Volkes preisgeben, es nicht dulden, dass ihm dieses dabei zuschaute.

Unpassendes Verhalten des Adeligen

Im Grunde unterscheidet sich diese Tabuisierung nicht von der, die der Jurist John Selden (1584-1654) in seinen Tischgeprächen (The Table-Talk of John Selden, London 1896, S. 96) ausspricht:

„Es ist für einen Lord wahnwitzig, Verse drucken zu lassen, es ist mehr als genug, wenn er sie schreibt, um sich selbst zu gefallen, aber sie publik zu machen ist wahnwitzig."

Und dann stellt er dieses Tun auf eine Ebene mit einem Lord, der sich in den Gassen mit Kinderspielen amüsierte. "Alle Kinder würden ihn auslachen", schließt er.

Auch Elyot findet Musik, Gesang, Malerei oder Schauspiel durchaus empfehlenswerte Übungen für einen Aristokraten. Aber er sollte dies nie in der Öffentlichkeit betreiben. Er erwähnt Nero als abschreckendes Beispiel, der ganze Sommertage „im Theater, an einer öffentlichen Stätte, wo das ganze römische Volk ihm zuschaute", auf der Harfe oder Leier zu spielen pflegte. Und wenn er malt und sich mit Farben bekleckst der Masse zeigen würde, werde diese für ihn nicht mehr Respekt aufbringen als für einen Handwerker. Und würde er öffentlich als Sänger auftreten, dann würde das Volk seine Ehrerbietung vergessen, da sie ihn in einer ähnlichen Haltung sähen wie „einen gemeinen Diener oder Misntrel".

Die Aristokratie wird die Führung im Staat verspielen, wenn sie sich der Bildung verschließt und nicht den Standard für gute Manieren, für „honest manners" setzt (weiterer Hintergrund dazu: hier). „Gebt daher Acht, ihr große Männer bei Hofe, gebt Acht, was ihr macht, gebt Acht auf eure Lebensführung. Denn wie ihr große Männer zu handeln pflegt, so mögen auch alle handeln, die niedriger Herkunft sind. Ihr seid wahrhaftig Bildner oder Verderber der Sitten im Königreich." Bildner oder Verderber der Sitten: „makers or marrers of manners", schreibt Ascham in einer wohlklingenden Alliteration.

 Sehr ähnlich lässt es Shakespeare Heinrich V. seiner Gattin sagen:

„Dear Kate, you and I cannot be confined within the weak list of a country's fashion: we are the makers of manners." (V.2)

Verhaltensethik und Gesinnungsethik

Zur „honesty" gehört bei Ascham auch die Selbstdiziplin. Auf eine prägnante Formel bringt es John Lyly in Euphues His England (Herausgegeben von Morris William Croll und Harry Clemons, New York 1964, S. 241-2):

„'Honesty' nannte mein Großvater es, wenn die Menschen nach dem Gesetz und nicht nach Lust leben, wenn sie alle die Mitte beachten, die wir Tugend nennen; und als Tugend erachten wir nichts Anderes, als gerecht und maßvoll zu handeln."

Heute bedeutet „honesty" ausschließlich „Ehrlichkeit", „Aufrichtigkeit", die Übereinstimmung von innerlicher Gesinnung und äußerlichem Tun und Reden. Der Bestimmungsort der Ehrlichkeit ist ins Innere verlegt worden. Im 16. und 17. Jahrhundert lag der Schwerpunkt von „honesty" jedoch sehr viel weniger auf der inneren Gesinnung als auf der äußeren Erscheinung. Die höfische Ethik war, um Max Webers Begriffspaar zu verwenden, vor allem eine Verhaltensethik, keine Gesinnungsethik.

Wenn aber „honesty" ein solch dehnbarer Begriff war, das er sich an die verschiedensten Tätigkeiten: Lernen, Tanzen, Reiten, usw. heften konnte, wie ließ sich dann bestimmen, was „honest" und „dishonest" war? Der französische Moralist Pierre Nicole (1625-1695) hat auf die Frage, was „honnêteté" oder „civilité" sei, eine simpele und realistische Antwort gegeben: „Es ist eines dieser einfachen Gesetze der Schicklichkeit, dessen Geltung auf dem Konsens solcher Leute beruht, die sich darin einig sind, diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, zu verurteilen... Daher kommt es, dass wir unseren Mitmenschen gegenüber verpflichtet sind, die Vorschriften des zivilen Verhaltens einzuhalten, die von den honnêtes gens aufgestellt wurden, selbst wenn sie keinen deutlichen Gesetzen unterliegen." (zitiert nach Donna C. Stanton, The Aristocrat as Art. A Study of the Honnête Homme and the Dandy in Seventeenth- and Nineteenth-Century French Literature, New York 1980, S. 131).

Wer „honest" war und zur Eliteschicht gezählt wurde, darüber befand die Meinung, das Wort, der Blick des Anderen.

Norbert Elias (Die höfische Gesellschaft, Frankfurt/main 1992, S. 145) benutzt dafür den Ausdruck der „guten Gesellschaft".

„Betrachtet man, um ein klares und ausgeprägtes Bild zu bekommen, eine adlige »gute Gesellschaft«, dann sieht man sofort in welchem Grade der einzelne hier von der Meinung der anderen zugehörigen Menschen abhängig ist. Er gehört, unbeschadet seines Adelstitels, nur solange faktisch zu der betreffenden »guten Gesellschaft«, solange es die anderen meinen, nämlich ihn als zugehörig zu betrachten."

Wenn die anderen nicht mehr meinen, ein Adeliger gehöre nicht mehr dazu, so war dieser Adelige faktisch ein „outcast", zumindest auf Zeit.

Da dieser Statuszuweisungsprozess keine geschriebenen Gesetze kennt, ist der heutige Leser darauf angewiesen, sie aus den zeitgenössischen Dokumenten herauszulesen.

Wie bald gezeigt werden wird, sind Shakespeares Sonette ein solches Dokument.

© Robert Detobel 2010