Shapiro-Tagebuch (18) Vorbetrachtungen zu den Sonetten 121, 110 und 111

Um sich die Art der existentiellen Erschütterungen, die der Dichter im Sonett 121 und unseres Erachtens in den beiden Sonetten 110 und 111 impliziert, deutlich vor Augen zu führen, ist es nützlich, noch einmal auf das soziale Gewebe, Spinnennetz, könnte man sagen, in dem sich der Dichter befindet, hinzuweisen.

„Wenn ein höfischer Mensch sagte: Mir liegt nichts an der «distinction», an der «considération», an dem «valeur» oder «honneur», oder wie immer diese charakteristischen Prestige- und Distanzierungssymbole hießen, dann war die Kette gebrochen" (Elias, S. 178).

Die „Kette" ist das soziale Universum, in dem sich der Hof um die Sonne, genauer den Sonnenkönig, dreht. Die „Kette", die diese Konstellation am nachhaltigsten ausdrückt, ist, die „Eti-Kette". (eine Laune der deutschen Sprache bringt hier eine ganz eigentümliche Etymologie hervor). Norbert Elias schreibt zwar über den Sonnenkönig Ludwig XIV., Frankreich und das 17. Jahrhundert, aber der Hof der „Mondkönigin" Elisabeth I. - als Cynthia, die Mondkönigin wurde sie häufig apostrophiert - im England des 16. Jahrhunderts unterschied sich in der Grundstruktur nicht allzu sehr davon.

Roy Strong handelt davon in seinem Buch The Elizabeth Cult (London 1977). Wir wählen hier seinen Kommentar zu der Verherrlichung der Königin in Sir John Davies' Orchestra (1596): „Die Liebe erschuf das Universum und die gesellschaftliche Ordnung und erfand den Tanz. Tanz kann nicht ohne Musik existieren, und die Vorstellung der Gesellschaft als musikalisch durchgestaltet, der politischen Einheit als musikalischer Harmonie, des Rituals und Tanzes als körperlicher Ausdrücke einer solchen Ordnung sind Gemeinplätze im Denken der Renaissance." (S. 53)

„Davies fährt fort, die vollkommene Spiegelung dieser Ordnung in einer Vision von Elisabeth und ihrem Hof zu verorten, sie der „glänzende Mond, der alles überstrahlt", ihre Höflinge wie „tausend Sterne" um sie herum strahlend." (S. 54).

Edward de Vere war diese Etikette verhasst, eine Haltung, die Shapiro vermutlich schwerlich mit einem Aristokraten verbinden könnte. Man hört ihn, vielleicht im Duett mit Jonathan Bate, das Refrain singen: „Eine solche Ablehnung der höfischen Etikette, wie sie aus den Sonetten 124 und 125 spricht, ist mit der Vorstellung eines aristokratischen Shakespeare unvereinbar." Man würde die beiden wahrscheinlich nicht bewegen können, in Edward de Veres Briefen nachzuschauen, im Brief vom März 1601 an seinen Schwager Sir Robert Cecil, in dem er sich selbst bezeichnet als: „a hater of ceremonies", ein „Hasser von Zeremonien".

Im Eintrag 16 haben wir festgestellt, dass die soziokulturelle Rolle des Adels als Setzer der Maßstäbe angemessenen sozialen Verhaltens eine wesentliche legitimatorische Grundlage für seinen Anspruch auf die politische Vorherrschaft bildete (Roger Ascham: „You are the makers or marrers of manners.") Und auch in England spielte die „gute Gesellschaft" eine maßgebliche Rolle.

1575 wurde Stefano Guazzos sehr einflussreiches Werk La Civile Conversazione ins Englische als The Civil Conversation übersetzt. „Conversation" hat hier eine sehr viel weitere Bedeutung als das heutige „Konversation"; gemeint ist „ziviles gesellschaftliches Verhalten" allgemein. In seinem „Comparative Discourse" innerhalb Palladis Tamia setzt Francis Meres den Römer Aulus Persius Flaccus und den Engländer Michael Drayton in Vergleichung; ersterer sei „of an honest life and upright conversation", letzterer „of virtuous disposition, honest conversation and well-governed carriage". Nach Guazzo ist der „erste Schritt zum angemessenen Verhalten... zu wissen (und dadurch zu vermeiden), was 'unziviles und tadelnswertes Verhalten' oder 'schlechte Gesellschaft' darstellt, denn wir werden zu denen, mit denen wir verkehren [ein Gedanke, der Shakespeare im Sonett 111 aufzugreifen scheint]. Durch eine breite Erfahrung in der Natur der anderen lernen wir unsere eigene Natur und unser eigenes Handeln ermessen. Wenn uns diese Richtschnur fehlt, verpassen wir die empfehlenswerte aristotelische Mitte." (Zitiert nach John Lievsay, Stephano Guazzo and the English Renaissance 1575-1675, Chapel Hill 1960, S. 36).

Im Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 (Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer, Heft 7: „Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens" von Anette Höfer und Rolf Reichardt, München 1986) schreiben die Autoren unter Verweis auf Oskar Roths Die Gesellschaft der „honnêtes gens", dass sich das ambivalente Leitbild des „honnête homme" (das sich kaum von Stefano Guazzos „zivilem" Leitbild unterscheidet) interpretieren ließe als „'ideologischer Abschirmungsversuch des Adels gegenüber dem Bürgertum' durch die Pflege einer gesellschaftlichen Geschmackskultur abseits unmittelbarer bürgerlicher Konkurrenz". (S. 17) Diese Feststellung trifft nur bedingt zu. Sie trifft zu, insofern man nur die Distanzierungsstrategie im Auge hat. Doch dass, wie die Autoren vorher schreiben, der Adel politisch entmachtet war, ist nur teilweise richtig. Der alte Feudaladel, wenn er sich an die tradierten Verhaltensweisen halten wollte, wurde zwar marginalisiert. Adelshäuser verschwanden zwar, aber neue rückten nach. Dieser neue Adel rekrutierte sich aus dem Bürgertum, jedoch übernahm der in den Adel aufgestiegene Bürger die adelige Lebensführung (u. a. Aufgabe des Einkommens aus gewerblicher Tätigkeit) und die verfeinerte Kultur. Als System blieb der Adel erhalten. „Ach!", möchte man all jenen ironisch zurufen, die in der Debatte um die Verfasserschaft der Shakespearschen Werke das Lied vom Snobismus in allen Lautstärken, auf Blockflöte wie auf Fanfarentrompete, spielen, „ach! wenn Ihr etwas mehr Geschichte studiert hättet, Eures schlechtes Geld der Standardsätzchen und Gemeinplätzchen gegen das gute Geld historischer Analyse eintauschtet, und wüsstet, wie viele Eurer bürgerlichen Ahnen sich damals verhielten, realistisch nämlich und das hieß zugleich zutiefst snobistisch, oder um den u.  E. etwas retrospektiven Ausdruck Fernand Braudels zu verwenden, als „Verräter der Bourgeosie".

Weil das angemessene Verhalten zu einer zentralen Legitimationskategorie für den Adel als Ganzes wurde, war es wichtig, dass alle Angehörigen diesen Verhaltenskodex einhielten. Der Druck war von beiden Seiten groß: der Druck des Adels als Ganzes auf jeden einzelnen Angehörigen und, umgekehrt, der Druck, der von jedem einzelnen Angehörigen des Adels durch unangemessenes Verhalten auf dem Ganzen lastete, so dass das Ganze den einzelnen Abweichler auszusondern hatte. Niklas Luhmann beschreibt diesen Zwang wie folgt:

„Die Angehörigen dieser höchsten Schicht sind durch die für sie geltenden Regeln systeminterner Kommunikation aber nicht nur in besonderer Weise gefordert, sie sind auch nahezu ausweglos an sie gebunden, weil es für sie keine Existenz außerhalb ihrer Schicht gibt und diese Schicht sehr klein ist. Sie werden nicht durch Fremdbestimmung, sie werden durch Ausweglosigkeit diszipliniert." (Gesellschaftsstruktur und Semantik - Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 3 Bände, Frankfurt/M 1993, Bd. I, S. 77)

Es ist das Risiko der sozialen Ausweglosigkeit, das der Dichter der Sonette 121 und 110 wie 111 offenbar einzugehen bereit war.

Dass mehrere der Sonette Shakespeares den Hof als Bezugsrahmen haben, dafür sei noch einmal speziell auf die Sonette 124 und 125 verwiesen mit ihrer Verwerfung des „sklavischen Gaffens", der künstlichen und unaufrichtigen Etikette und der Denunziation („suborned informer", „hinterlistiger Denunziant"). Es waren unweigerliche Merkmale der höfischen Gesellschaft. „Die Affären, Intrigen, Rang- und Gunststreitigkeiten brachen nicht ab. Jeder hing vom anderen ab, alle vom König. Jeder konnte jedem schaden. Wer heute hoch rangierte, sank morgen ab." (Elias, S. 158).

Bei Shakespeare im Sonett 125 heißt es: „Have I not seen dwellers on form and favor/ Lose all, and more, by paying too much rent." ("Sah ich nicht oft Pächter von Manier und Gunst/Allzu hohe Renten zahlend, elend enden.")

© Robert Detobel 2010