Shapiro-Tagebuch (20) Sonett 110

Alas 'tis true, I have gone here and there,
And made my self a motley to the view,
Gored mine own thoughts, sold cheap what is most dear,
Made old offences of affections new.
Most true it is, that I have looked on truth
Askance and strangely: but by all above,
These blenches gave my heart another youth,
And worse essays proved thee my best of love.
Now all is done, have what shall have no end,
Mine appetite I never more will grind
On newer proof, to try an older friend,
A god in love, to whom I am confined.
Then give me welcome, next my heaven the best,
Even to thy pure and most most loving breast.

Prosa-Übersetzung:

Es ist wahr, ich bin hier und dort gestreunt und habe mich selbst als Narr den Blicken ausgesetzt, meine eigenen Gedanken durchbohrt, billig verkauft, was das Teuerste ist, aus neuen Affekten alte Fehler gestrickt. Allzu wahr ist es, dass ich auf die Wahrheit schief und fremdartig geschaut habe: doch bei alldem gaben diese Blässen (Blendungen, oder „Verfahlungen", wenn man ein Mischwort aus „Fahl" und „Fehler" bilden möchte) meinem Herzen eine andere Jugend, und schlimmere Prüfungen erwiesen Dich als meine beste Liebe. Jetzt ist alles vorbei, nimm jetzt, was kein Ende haben wird; meine Gier werde ich nicht erneut auf Prüfungen richten, um einen älteren Freund zu prüfen, ein Gott in Liebe, an den ich gebunden bin. Dann heiße mich willkommen, nach meinem Seilenheil das Beste, in Dein reines und so so liebendes Herz.

In diesem Sonett, und in noch stärkerem Maße im nächsten, haben mehrere Interpreten eine Anspielung auf Shakespeares Theaterkarriere erkennen wollen. Selbstverständlich ist dabei die Rede von Shakespeare aus Stratford: doch so selbstverständlich ist dies bei weitem nicht.

Eine Anspielung auf die Bühne legen am nächsten die beiden ersten Zeilen. Vendler bemerkt dazu: „One senses from subsequent lines that the speaker has been reviling himself inwardly with accusations quite different from the one of self-exposure voiced by the young man." [„Aus den weiteren Zeilen entsteht der Eindruck, dass sich der Sprecher innerlich Verfehlungen vorgeworfen hat, die sich sehr unterscheiden von dem Vorwurf des jungen Mannes, er habe sich den Blicken als Narr ausgesetzt."]

„Self-exposure" nennt Vendler diesen Vorwurf des jungen Mannes. In Eintrag 16 ist mehrmals die Rede davon.

„Self-exposure" - das sollte, schreibt der berühmte Jurist John Selden in seinem Table talk Mitte des 17. Jahrhunderts, ein Lord unterlassen. Er solle nicht seine lyrischen Ergüsse zum Drucker schleppen; er machte sich damit ähnlich lächerlich, wie wenn vor den Augen der Buben in den Gassen auf einer Rohrflöte spielte oder mit irgendeinem Eisenreifen sich amüsierte.

„Self-exposure" - das hatte Sir Thomas Elyot mehr als ein Jahrhundert vor Selden geschrieben, sollte sich ein Aristokrat, der die Geschicke des Königreiches mit lenken möchte, auf keinen Fall zuschulden kommen lassen; er solle vor den Augen des gemeinen Volks nicht als Schauspieler, Sänger oder Malen agieren, denn damit würdigte er sich selbst herab. Das gemeine Volk würde dann die Ehrerbietung, die es ihm schuldet, vergessen. Und implizit schwingt die Mahnung mit, er würde damit auch dem öffentlichen Erscheinungsbild der Aristokratie insgesamt schaden.

Dieser Vorwurf des „self-exposure", von einem jungen Aristokraten kommend - dass der junge Freund der Sonette ein Aristokrat ist, werden die allerwenigsten bezweifeln - kann nicht unerwartet kommen, aber nur dann nicht, wenn derjenige, dem der Vorwurf gemacht wird, selber ein Aristokrat ist.

Dass die römische Aristokratie Modellcharakter bei der Neuselbestimmung der europäischen Aristokratie im 16. und 17. Jahrhundert bedarf kaum der Erwähnung, denkt man allein an den Einfluss von Ciceros  Vom pflichtgemäßen Handeln. Es ist daher naheliegend, noch einmal einen Blick in Buch 14 von Tacitus' Annalen zu werfen.

„Exposure" ist auch ein Kernbegriff in Tacitus' Verurteilung von Kaiser Neros histrionischer (d. h. schauspielerischer) Aktivitäten (der Ausdruck wird in der englischen Übersetzung des 14. Buches auch einmal verwendet).

Die öffentliche Zurschaustellung seiner beschämenden Handlungen („evulgatus pudor", also sein vor das „Vulgo", die breite Öffentlichkeit beschämendes Benehmen) habe ihn nicht abgeschreckt, sondern im Gegenteil ermuntert (14.14.). Erst habe Nero noch gezögert, sich im öffentlichen Theater zu entehren („tamen adhuc publico theatro dehonestaretur") (14.15). Zweihundert Jahre lang seit der Einführung dieses Schauspiels aus Griechenland habe kein ehrbarer Römer („Romae honesto") sich zu der öffentlichen Schauspielerei herabgelassen („theatrales artes degeneravisse") (14.21). Doch jetzt würden sogar römische Edelleute von Kaiser und Senat aufgefordert, sich auf der Bühne zu besudeln, indem sie angeblich als Redner oder Dichter auftraten („"orationum et carminum scaena polluantur") (14.20) An anderer Stelle bezeichnet Tacitus Neros Auftritte als „Vergehen" („delinquerent") (14.14).

Angefangen hatte es mit Neros Begehren, im Zirkus selbst eine Quadriga zu lenken. Seine beiden Berater Seneca und Burrus waren ob seines Vorhabens alarmiert. Sie konnten ihn zunächst überreden, seine Künste als Wagenlenker privat innerhalb eines dem Publikum verschlossenen eingehegten Gelände im Vatikan-Tal zu erproben und nicht publik („haud promisco spectacolo", „nicht gerade vor den Augen aller") (14.14)

Doch Neros Wille, nur Künstler zu sein, sein nicht zu bändigender ästhetischer Sturm und Drang, trieb ihn zum Applaus durch die Vielen. Er übersprang die gesellschaftliche Schranke.

Man ersieht, wie grundlegend für eine herrschende Aristokratie das Verbot an ihre Angehörigen war, sich nicht als Schauspieler, Sänger oder Sportler den Blicken der Menge, der Untertanen, auszusetzen.

Noch einmal: für einen gemeinen Berufsschauspieler Shakespeare in einer aristokratischen Gesellschaft hat es wenig Sinn, sich darüber zu beklagen, sich den Blicken der Menge als Narr ausgesetzt zu haben. Ganz abwegig wäre es für einen aristokratischen Freund dieses Schauspielers gewesen, ihm das vorzuwerfen.

Hatte Edward de Vere wie Nero, wenn auch nur zeitweilig, ebenfalls diese Schranke durchbrochen?

In Szene III.2 ermahnt Hamlet sich selbst: „Nie dränge/ Sich Neros Seel' in diesen festen Busen!" Gewiss, angespielt wird unmittelbar auf Neros Betreiben der Ermordung seiner eigenen Mutter Agrippina. Doch wird Hamlets Zorn gegen die Mutter auch dadurch hervorgerufen, dass sie das von ihm inszenierte Schauspiel missbilligt. Tacitus zufolge (14.13) habe sich Nero zunächst aus Respekt vor seiner Mutter von seinen öffentlichen Bühnenauftritten zurückgehalten („quas male coercitas qualiscumque matris reverentia tardaverat"). Nach dem Mord an seiner Mutter gab er sich seinem Verlangen nach einer rein ästhetischen Existenz ungezügelt hin.

„Die Figur des Nero hat Shakespeare offensichtlich lebhaft vor Augen gestanden, als er das Stück schrieb." (Theodore Lidz, Hamlets Feind, Mythos und Manie in Shakespeares Drama, aus dem Amerikanischen übersetzt von Lutz W. Wolff, Frankfurt/Main 1980, S. 89).

Wenn Edward de Vere zeitweilig ebenfalls die Schranke zum öffentlichen Theater durchbrochen haben sollte - und in den nächsten drei Einträgen wird sich diese Vermutung zur Gewissheit verdichten -, werden wir um einen Grund mehr bereichert sein, warum dies so war.

© Robert Detobel 2010