Shapiro-Tagebuch (22) Ten Lines that Shake the World

John Davies of Hereford (ca. 1565-1618) war ein Verfasser von Epigrammen und anderen Gedichten; er war auch Schönschriftlehrer. Er stand den Brüdern William und Philip Herbert, respektive Graf von Pembroke und Montgomery, nahe, denen er mehrere Gedichte widmete. Diesen beiden war auch die erste Gesamtausgabe von Shakespeares Bühnenstücken gewidmet. Er kannte auch den Grafen von Southampton, den Freund der Sonette. In dem 1611 erschienenen The Scourge of Folly widmete er verschiedenen Zeitgenossen Epigramme, darunter auch den Schriftstellern Ben Jonson, Samuel Daniel und George Chapman. Und auch Shakespeare.

Shapiro erwähnt John Davies of Hereford nur einmal, und dies auch nur innerhalb eines Zitates aus einem in der Times vom 20. April 2009 erschienenen Artikel von Jonathan Bate. Nur ein Jahr vorher hatte Bate in seinem Buch Soul of the Age vermeint, John Davies of Hereford als den Dichterrivalen der Sonette identifiziert zu haben. In dem Artikel widerruft er diese und eine andere, frühere „Entdeckung": In seinem Buch The Genius of Shakespeare (1997) hatte er die Ehefrau von John Florio als „Dark Lady" der Sonette identifiziert. John Florio war Southamptons Italienischlehrer. Gut möglich, dass sich Southampton und Frau Florio mehr oder weniger nahe gekommen sind. Naheliegend ist dies jedoch nicht. Bate aber ließ die beiden denkbar nahe liegen: im Bett. Doch hat er inzwischen eingesehen, dass nicht Southampton und Frau Florio zu weit gegangen sind, sondern er selbst in seiner Deutung. Und wirft nun mit diesen kapitalen Fehlern auch gleich alles Biografische als einen fundamentalen kapitalen Fehler über Bord. Er erntet dafür natürlich Shapiros Beifall (S. 301).

Doch sonst erwähnt Shapiro John Davies of Hereford mit keiner Silbe. Obwohl dieser Shakespeare gut gekannt haben muss. Er kann auf Seite 254 auch nicht namenlos unter den vielen Londoner Bürgern einbezogen sein, denen Shakespeare eine vertraute Erscheinung gewesen sein soll: Denn der Shakespeare, über den uns Davies in seinem zehnzeiligen (rechnet man die Titelzeilen mit) Epigramm etwas mitteilt, kann nicht Shakespeare aus Stratford gewesen sein. Deshalb erschüttern diese Zeilen die orthodoxe Shakespearewelt. E. K. Chambers nannte einige Zeilen aus dem Epigramm „kryptisch". Wahr ist: die Aussage des Epigrammes ist glasklar. Zwar sagt es nicht, wer Shakespeare war, wohl aber, dass er nicht Shakespeare aus Stratford war.

         To our English Terence, Mr. Will.

                          Shake-speare.

Some say (good Will) which I, in sport do sing,
Had'st thou not plaid some Kingly parts in sport,
Thou hadst bin a companion for a King;
And, beene a King among the meaner sort.
Some others raile: raile as they thinke fit,
Thou hast no rayling, but, a raigning Wit.
    And honesty thou sow'st, which they do reape;
    So, to increase their Stocke which they do keepe.

„Einige sagen, lieber Will, den ich im Spiel besinge, dass wenn Du nicht im Spiel einige königliche Rollen gespielt hättest, Du ein Gefährte für einen König und für die niedrigeren Stände selbst ein König gewesen wärst."

Was man unter „einem Gefährten für einen König" zu verstehen hat, ist an sich deutlich genug. Es soll hier, da man gerne über diese angeblich „kryptische", in Wahrheit jedoch „kritische" Aussage hinweggleitet, dennoch durchdekliniert werden. Der König residierte am Hofe, ein Gefährte für einen König ist ein regelmäßiger Begleiter desselben, um sich regelmäßig in der Nähe des Königs aufzuhalten, muss der Gefährte sich regelmäßig am Hofe aufhalten, ergo, der Gefährte ist ein: Hofmann! Im Verhältnis zu den niederen Ständen war dieser Hofmann selbst eine Art König, so wie der Einäugige unter Blinden. Aber Shakespeare war kein Gefährte für einen König, obwohl er es aufgrund seines Standes hätte sein können, woraus zu schließen ist, dass er vom Hofe verbannt worden war. Den Grund nennt John Davies ebenfalls: Shakespeare hatte auf der Bühne königliche Rollen gespielt, wobei man die „königlichen Rollen" vielleicht nicht zu strikt auslegen soll, da Davies versessen ist auf Antithesen oder Bipolaritäten (in diesem Epigramm: „ some say: some parts", „companion for a king: king among the meaner sort", „in sport do sing: plaid in sport", „raile: raile", „rayling: raigning").

Es gibt kein Dokument, das Shakespeare aus Stratford eindeutig als Verfasser der Shakespearschen Werke ausweist. Es gibt jedoch mindestens ein Dokument, dieses Epigramm nämlich, das ihn eindeutig als Verfasser zurückweist. Drum, Professor James Shapiro, bevor Sie sich wieder zur psychologischen Schnüffeljagd nach den Motiven der Zweifler aufmachen: „Hören Sie her! Hieher!!" 

Es gibt kein Dokument, das eine andere Person unmittelbar als den Verfasser ausweist. Auch dieses hier nicht. Aber dies sagt uns dieses Dokument doch deutlich genug: Shakespeare, Will. Shake-speare, war ein Hofmann, der vom Hofe verbannt wurde, weil er auf der Bühne aufgetreten war. Und bekräftigt dadurch, was Shakespeare selbst in seinem Sonett 110 andeutet und in Sonett 111 unterstrich.

Die letzten vier Zeilen:

„Einige andere spotten, aber mögen sie doch spotten, wie sie es für richtig halten. Du hast nicht einen spöttischen, sondern einen souveränen Witz. Und du säst Anmut [kultivierten Stil], die sie [die Schauspieler] ernten, um so den Vorrat, die sie aufbewahren, zu erhöhen."

Oh, da ist das Wörtchen „honesty" wieder. Es wird uns im nächsten Beitrag wieder beschäftigen. Das Wort hatte soviele Bedeutungen, dass man auch ein anderes Wort als „Anmut" hätte wählen können, ein anderes aus der langen und leicht verlängerbaren Reihe in Cottgraves Französisch-Englisches Wörterbuch (siehe Beitrag 16). Da „honest" allgemein auch als Adjektiv zu „Lebensführung" tritt (z. B. in Roger Aschams The Scholemaster als „honest living" oder „live honestly") empfiehlt sich hier eher das in eckige Klammern gesetzte „kultivierter Stil" oder ein Äquivalent wählen. Gemeint ist also: Shakespeare habe das Bühnenstück auf ein höheres kulturelles Niveau gehoben, und die Früchte ernten die Schauspieler.

Auf ein anderes Gedicht, „Speculum Proditori" („Verräterspiegel") des John Davies of Hereford sei noch hingewiesen. Dieses lange Gedicht, ebenfalls im antithesenverliebten Stil, enthält fünf Strophen von je acht Zeilen, die Alexander B. Grosart, der Herausgeber des Gesamtwerkes dieses Autors Ende des 19. Jahrhunderts, ebenfalls, zu Recht wohl, auf Shakespeare bezieht. Die erste dieser fünf Strophen fängt an:

I knew a Man, unworthy as I am,
And yet too worthie for a counterfeit,
Made once a king; who though it were in game,
Yet was it there where Lords and Ladyes met:
Who honor'd him, as he had been the same.

"Ich kannte einen Mann, nicht würdiger als ich selber bin, und doch zu würdig für ein Konterfei; einst wurde er zum König erhoben, wenn auch nur im Spiel. Und es war dort, wo Lords and Ladies sich trafen, die ihn ehrten, da er einmal wie sie selbst gewesen war."

Das Wort „Konterfei" kann man als „Schauspieler" verstehen, da der Schauspieler ja eine andere Person nachahmt, „porträtiert" gleichsam. Dieser Mann war nicht würdiger als John Davies selbst, der kein Adeliger war. Hier scheint sich John Davies flagrant zu widersprechen, denn danach schreibt er, dass dieser Mann von den Lords und Ladies geehrt wurde, da er einmal ihresgleichen gewesen sei. Der Widerspruch ist jedoch nur scheinbar. Ein Lord, der seinen Titel behalten hatte - das sollte aus den vorhergehenden Beiträgen klar geworden sein -, war zwar faktisch immer noch adelig und zu würdig, um als Schauspieler aufzutreten, aber wiederum nicht würdig genug, um von der „guten adeligen Gesellschaft" nicht ausgegrenzt, nicht, zumindest zeitweilig, aufs Abstellgleis gestellt und damit nicht mehr als Mitglied der „realaristokratischen Gesellschaft" betrachtet werden. Hören wir noch einmal Niklas Luhmann (siehe Beitrag 18): Es gab für Angehörige dieser oberen Schicht „keine Existenz außerhalb ihrer Schicht..." und sie würden durch „Ausweglosigkeit diszipliniert". Der Mann, von dem John Davies spricht, hatte zeitweilig, wohl im Namen einer ästhetischen Selbstverwirklichung, die Ausweglosigkeit gewählt.

Und hören wir weder auf die historisch unbedarften Aristokratieverklärer noch auf die ebenso historisch unbedarften Aristokratieverteufler. Aristokrat zu sein, war nicht bloß eine Frage des Titels, sondern auch des Zertifikats der „guten Gesellschaft", der verhaltensnormierten Statuszuweisung.

Es gibt es, dieses Lager der Anti-Stratfordianer, die mit einem solch simplistisch gestrickten Begriff von Aristokratie für einen aristokratischen Verfasser argumentieren. Es gibt allerdings auch das mit einem ebenso simplistisch gestrickten Aristokratiebegriff gegen jeden Zweifler den Vorwurf des Snobismus schwingende Lager der Orthodoxie. Beide Lager spiegeln sich in ihrer ahistorischen Simpelgestricktheit. Beide einfach gestrickten Lager sollten ihre Debatte bei einer Flasche Fusel am Regenbogenpressekiosk austragen. Das ist der geeignete Ort, das ist das geeignete Getränk für diese Art von Konferenz.

© Robert Detobel 2010