„Hatten die Kritiker einmal begonnen, die Sonette als Bekenntnisse zu lesen, begannen sie auch ihre Aufmerksamkeit zu richten auf die ungenannten schattenhaften Figuren, auf die darin angespielt wird, in der Annahme, Shakespeare hätte wirkliche Menschen vor Augen gehabt, wenn die verschiedenen Sprecher der Sonette von „dark ladies", jungen Männern und Dichterrivalen reden. [meine Hervorhebung]" (S. 60)
Mit diesem Satz spricht Shapiro selbst das Todesurteil über seine Prämisse, dass die Sonette das reine Produkt der Einbildung wären. Wer sind die vielen „dunklen Damen", junge Männer und Dichterrivalen? Vor allem: wer sind die vielen Sprecher? Oder haben wir es wieder mit einem der vielen Versprecher Shapiros zu tun? Oder meint er wirklich, Shakepeare würde mal so und mal so sprechen? So, so!
Helen Vendler, wohl die sensibelste aller Interpreten der Sonette (The Art of Shakespeare's Sonnets), betont, dass es ihr einziges Ziel sei, Shakespeares „ästhetische Strategie" zu untersuchen. Sie lässt deshalb jede Referenz auf etwaige äußere Ereignisse, fügt aber hinzu, dass die totale Ereignislosigkeit nicht aufgehe (S. 14). Sie sieht nur EINEN Sprecher: den Dichter. Sie erkennt auch keine „vielen Dark Ladies": sie ist ein Du, immer dasselbe Du, an das sich der Dichter richtet. Dem jungen Mann werden die Sonette ein Monument für die Ewigkeit gesetzt. Wie viele junge Männer passen in das Monument? Der Dichterrivale ist ein ER. Und ist gar auch kein echter Rivale als Dichter, denn „neither he, nor his compeers by night" (Sonett 86) flößen Shakespeare Angst ein und, im gleichen Sonett, jemand hat den Rivalen gelehrt, wie man Gedichte schreibt: „Was it his spirit, by spirits taught to write".
Für Shapiro jedoch - es muss noch einmal betont werden - gibt es viele Sprecher, die von vielen „dunklen Damen", vielen jungen Männern und vielen Dichterrivalen reden. Was bietet er für seine These an? Außer dem nonchalanten Plural, nichts. Nichts, außer vielleicht einem obszön aussehenden logischen Seitensprung. Nicht dass er in der Lage wäre, aus den Sonetten heraus annehmbare Gründe wenigstens zu suggerieren, sondern dass andere Kommentatoren eine ellenlange Reihe diverser Kandidaten für diesen Dichterrivalen (und für die „dark Lady") produziert haben. Worüber er sich lustig zu machen scheint. Nun, bei Shapiros These, dass es von allen dreien jeweils viele gäbe, könne man jedem Recht geben.
Nicht von ungefähr bleibt die Reihe der Kandidaten für den jungen Freund unerwähnt. Hier sind verhältnismäßig wenige Kandidaten ins Spiel gebracht worden. Nur zwei sind je ernsthaft in Betracht gezogen worden: Henry Wriothesley, dritter Graf von Southampton, und William Herbert, dritter Graf von Pembroke. Die Argumente sprechen jedoch recht eindeutig für Southampton. Die große Mehrheit der Forschergemeinde dürfte sich auf ihn einigen. Vielleicht auch Shapiro selber. Ob Shapiro nun selbst Southampton oder ein Mister Vielgestalt befürwortet, man soll ihn auf jeden Fall einladen, einen Blick auf Sonett 107 zu werfen. Es ist ein Sonett, für dessen Entstehungsdatum inzwischen ein recht breiter Konsens bestehen dürfte: im Frühling 1603, als Southampton kurz nach der Thronbesteigung Jakobs I. aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine lebenslängliche Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an der Essex-Rebellion im Februar 1601 absitzen sollte. Die ersten vier Zeilen des Sonettes spielen darauf an:
Not mine own fears, nor the prophetic soul,
Of the wide world dreaming on things to come,
Can yet the lease of my true love control,
Supposed as forfeit to a confined doom.
The mortal moon hath her eclipse endured,
And the sad augurs mock their own presage,
Incertainties now crown themselves assured,
And peace proclaims olives of endless age.
Now with the drops of this most balmy time,
My love looks fresh, and death to me subscribes,
Since spite of him I'll live in this poor rhyme,
While he insults o'er dull and speechless tribes.
And thou in this shalt find thy monument,
When tyrants' crests and tombs of brass are spent.
„Lease" (dritte Zeile) bedeutet bei Shakespeare auch „Leben". Das Leben ist uns von der Natur in Pacht gegeben. So in Macbeth (IV.1):
and our high-plac'd Macbeth
Shall live the lease of nature, pay his breath
To
time, and mortal custom
[In der Übersetzung von Dorothea Tieck:
und unser Macbeth hochgemut
Lebt
bis ans Ziel der Tage, zahlt Tribut
Nur der Natur und Zeit.]
„Confined" (vierte Zeile) bedeutet „eingesperrt" und ist hier vielleicht auch deshalb gewählt, weil es den lateinischen Stamm „fin" von „finis", „Ende" enthält, während „doom" zugleich an „doomsday" („der jüngste Tag") gemahnt: Southampton war verdammt, bis ans Ende seiner Tage, im Kerker zu verbringen. Genauer, wäre verdammt, solange die alte Königin lebte (siehe unten).
Zeiten nach dem Ableben eines Monarchen waren oft unruhige Zeiten, begleitet von Bürgerwirren oder gar Bürgerkriegen, zumal dann, wenn, wie im Falle Jakobs I., kein Nachfolger in direkter erblicher Linie bereit stand und mehrere Prätendenten in Frage kommen konnten. Es ist zu vermuten, dass am Ende der Regierungszeit Elisabeth' I. solche Sorge, die übrigens ihre ganze Regierungszeit hindurch vernehmbar waren, düstere Prophezeiungen über die Zeit nach ihrem Tod zu hören waren.
Mit der friedlichen und rasch durchgeführten Übernahme der Krone durch Jakob I. zerstoben diese Befürchtungen, so dass die „düsteren Auguren" jetzt über ihre eigenen Voraussagen spotten mussten. Die „Incertainties now crown themselves assured" (in unverdichteter Aussage: „Die Unsicherheiten verwandeln sich durch die Krönung Jakobs I. jetzt in Sicherheiten"). Diese letzte Zeile der zweiten Strophe enthält eine weitere Anspielungen auf die Krönung Jakobs I. „And peace proclaims olives of endless age." Jakob I. hatte versprochen, ein Friedensfürst zu sein: außenpolitisch strebte er eine Aussöhnung mit Spanien an. In der darauffolgenden Zeile ist mit „balmy" eine weitere Metapher dem Krönungsritual entlehnt. Das Krönungsöl, mit dem der König „gesalbt" wird, heißt im Englischen „coronation balm".
Über die erste Zeile der zweiten Strophe „The mortal moon hath her eclipse endured" ist viel Tinte ins Meer geflossen. Unter anderem ist angenommen worden, dass diese Zeile auf den Tod der Königin Ende März 1603 angespielt wurde, wofür selbst ohne die erweiterte Bezugnahme auf Jakobs. I. Krönung alles spricht. „Cynthia" war einer der häufigsten Beinamen Elisabeth' (siehe z.B. Ben Jonsons Stück Cynthia's Revels oder Sir Walter Raleghs Gedicht „Ocean to Cynthia")). Cynthia, sagt uns The Wordsworth Dictionary of Phrase & Fable ist der Mond und ein Beiname der Göttin Diana (Artemis), so genannt, weil sie auf dem Berg Kynthos in Delos geboren wurde. Und fügt hinzu: „The name was one of many applied to Elizabeth I by contemporary poets". Mehr als ein halbes Jahrhundert bevor in Frankreich der Sonnenkönig Ludwig XIV. herrschte, herrschte in England die „Mondkönigin". Diese Bezeichnungen wurzeln in der sakralen Bedeutung des Königtums, wie auch die Theorie der zwei Körper des Königtums, die sich im Laufe der Zeit immer stärker auf eine staatsrechtliche Fiktion hin entwickelte (sie Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies, Princeton 1957). Kantorowicz widmet ein ganzes Kapitel dem Vorkommen dieser Doktrin bei Shakespeare, insbesondere in Richard II., wo das Wort „anointed", „gesalbt" insgesamt fünfmal verwendet wird, am nachhaltigsten in der Rede des Bischofs von Carlisle in der Absetzungsszene (IV.1):
Und soll das Bild von Gottes Majestät,
Sein Hauptmann, Stellvertreter, Abgesandter,
Gesalbt, gekrönt, gepflanzt seit so viel
Jahr,
Durch Untertanenwort gerichtet werden.
In König Johann (III.1) begrüßt Kardinal Pandulphio die Könige Englands und Frankreichs: „Heil euch, gesalbte Stellvertreter Gottes" und fordert im Namen des Papstes den König auf, den Erzbischof von Canterbury in sein Amt wiedereinzusetzen, worauf dieser erwidert: Welch ird'scher Name kann wohl zum Verhör/Geweihter Könige freier Odem zwingen".
Nach der Theorie der zwei Körper des Königs, wie sie in dem „Duchy of Lancaster Case" (1561) zur Frage, ob ein Erlass des minderjährigen Edward VI. rechtsgültig sein könne, der Rechtsgelehrte Edmund Plowden formulierte, besitze auch der Erlass eines minderjährigen Herrschers ungeschmälerte Rechtskraft, „Denn der König hat zwei Körper, und zwar einen natürlichen und einen politischen. Sein natürlicher Körper ist sterblich und allen Gebrechen unterworfen, verursacht durch Natur oder Unfall, Imbezilität [im Original: „imbecility"] der Kindheit oder des hohen Alters... Aber sein politischer Körper ist weder tast- noch sichtbar, da er durch Politik und Regierung sowie die Verwaltung des Gemeinwohls konstituiert wird; dieser Körper wird nicht von Kindheit oder hohem Alter, von anderen Mängeln oder Imbezilitäten berührt, denen der natürliche Körper ausgesetzt ist."
Königin Elisabeth, Cynthia, der Mond, hatte ebenfalls diese „zwei Körper". Als natürliche Person war dieser Mond sterblich, als Verkörperung des Politischen lebte sie weiter im Interregnum zwischen ihrem Tod und dem Beginn der Herrschaft durch die Salbung eines neuen Herrschers. Es war der „sterbliche Mond" („Moon" ist weiblich), der/die ihre Finsternis erlitten hat: „The mortal moon hath her eclipse endured".
Am 19. Februar 1601, weniger als zwei Wochen nach der Essex-Rebellion, waren die Grafen von Essex und Southampton zum Tode verurteilt worden. Essex wurde enthauptet; für Southampton wurde die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Das Personal des Tower-Gefängnisses behandelte Southampton respektvoll und höflich. „Sie wussten, dass die alte Königin nicht ewig leben würde und ihr wahrscheinlicher Nachfolger, Jakob VI. von Schottland Southampton fast mit Sicherheit in eine mächtige und einflussreiche Position einsetzen würde." (G.P.V. Akkrigg, Shakespeare and the Earl of Southampton, London 1968, S. 132). Als Freund von Essex, der zu den frühesten und eifrigsten Befürworter von Jakobs Anspruch auf den englischen Thron gehört hatte, war Southampton der Gunst des neuen Königs sicher.
So können wir die ersten neun Zeilen des Sonettes 107 in der unpoetischen Form eines fingierten Briefes Shakespeares an Southampton fassen:
„In diesen beiden Jahren zwischen Deiner Verurteilung und dem Tod der Königin habe ich mit der eigenen Angst zu kämpfen gehabt und mit der Angst, die durch die düsteren Prophezeiungen der „Weltgeister", die unruhige Zeiten voraussagten, geschürt wurden. Ich habe darüber gegrübelt, wie viele Jahre Deiner lebenslänglichen Haft Du noch würdest absitzen müssen. Diese beiden Ängste haben jetzt die Kontrolle über Dein Leben verloren. Die Königin ist gestorben, die düsteren Propheten, die Unfrieden voraussagten, müssen jetzt wohl selber darüber lachen. Mit der Krönung Jakobs I. ist, das, was als unsicher galt, nunmehr als Sicherheit gekrönt."
Das Wissen um den aktuellen Hintergrund eröffnet uns noch nicht das vollständige Verständnis des Sonettes. Es informiert uns allerdings doch über das Ereignishafte hinaus: Shakespeare entlehnt diesem aktuellen Hintergrund teilweise seine Bildsprache.
Nichts wäre dagewesen, sagt Shapiro, alles pure Imagination.
Um die Absurdität dieser Behauptung in das Licht zu stellen, das sie verdient, soll in den nächsten beiden Beiträgen an einem scheinbar aussichtlosen Fall demonstriert werden, dass die Sonette sehr wohl einen Bezug zu realen Personen und der Aktualität haben, wenn auch sich dieser Bezug oft unserem Zugriff entziehen mag. Das Sonett 105, der Zwillingsbruder des Sonettes 106 (für das Shapiro selbst mit windmühlenflügel-ähnlichen Schlägen einen biografischen Bezug herbeizurudern versuchte), erscheint als Gedankenspielerei, als poetische Étude, für die aber im übernächsten Beitrag ein zumindest plausibler Bezug zur Aktualität angeboten wird.
© Robert Detobel 2010