Shapiro-Tagebuch (45) Kapitel "Oxford"

Die Rekruten erhalten in der Kaserne von Feldwebel Zettel Theorieunterricht in Physik, denn die Bildung darf nicht zu kurz kommen. Feldwebel Zettel doziert: „1 km ist gleich 1000 m, genau tausend; 1 l ist gleich 100 cl; Wasser kocht bei 90 Grad..." Einer der Rekruten erhebt Einspruch: „Wasser kocht doch erst bei 100 Grad." Feldwebel Zettel: „Nein, bei 90 Grad, wie ich sage." Jetzt murren einige Rekruten mehr. Feldwebel Zettel wird unsicher: „Gut, ich werde das in meinem Buch überprüfen." Nach einer Weile: „Ihr habt recht, Wasser kocht bei 100 Grad, bei 90 Grad habe ich aber einen rechten Winkel."

Wenn ein Literaturwissenschaftler sich auf fremdes Territorium wie etwa das der Geschichte wagt, kann man dann und wann Versuche erleben, einen rechten Winkel zum Kochen zu bringen oder mit siedendem Wasser einen rechten Winkel zu bilden. Professor Alan Nelson kommt in seiner Biografie Edward de Veres „Monstrous Adversary" solchen Versuchen ziemlich nahe. Er scheint in den geschichtlichen Hintergrund am liebsten durch Falltüren einzutreten: um dann nicht auf Hintergrund zu landen, sondern in einem schwarzen Kellerloch. Einige seiner Irrtümer sind auf dieser Webseite in einer gewissen Ausführlichkeit erläutert worden. An einige davon muss hier noch einmal knapp erinnert werden, um das Lob, das dieser Biografie zuteil geworden ist, zu verstehen oder nicht zu verstehen. Statt in einem Bericht über einen Rechtsstreit einen Mann namens (Anthony) Wytheringe zu erkennen, der aufgefordert wird, vor dem Forstgericht zu erscheinen, erblickt er darin ein Märchen über „white herrings" („weiße Heringe"), wobei offenbar nicht einmal die Frage, was weiße Heringe in einem Wald tun könnten (auf den Bäumen schwimmen?) oder vor einem Gericht in rechtlichem, nicht gastronomischen Sinne, Zweifel an seiner eigenen „märchenhaften" Deutung zu wecken vermochten. Es hat womöglich damit zu tun, dass innerhalb der Literaturwissenschaft die Kultur des Zweifels nicht hochkarätig entwickelt ist. Auch nicht die Kultur des Fragens. Wohl aber die Kultur des Irgendwas-Sagens, die sich in Nelsons Biografie zum Beispiel dort findet, wo er seinen Leser einige Elemente des altenglischen Rechts beizubringen versucht. Nach dem Motto „Hauptsache, ich habe irgendwas gesagt" wirbelt er Termini des altenglischen Rechts in fast delirierender Manier durcheinander. Er redet über die Aktiengesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts, ohne von deren Funktionsweise etwas zu wissen. Von der elementaren Zwei-Zeugen-Regel (auf sie wird in Berichten über Hochverratsprozesse regelmäßig hingewiesen) scheint er noch nie etwas gehört zu haben, fühlt sich aber dennoch berufen, seine Meinung zum Besten zu geben, usw. Mit solchen Interpretationen belegt er zweierlei. Erstens, dass entgegen seinem deklarierten Vorsatz, die Dokumente selbst sprechen zu lassen, diese Dokumente der Interpretation bedürfen; zweiten, dass sie auch noch der richtigen Interpretation bedürfen, die freilich ohne Hintergrundwissen nicht gelingen kann. Die Liste von Nelsons Irrtümern ist lang, die Liste seiner grotesken Fehlinterpretationen ist kürzer, aber immer noch viel zu lang.

Dennoch befand Professor Tobias Döring, Rezensent von Kurt Kreilers Buch Der Mann, der Shakespeare erfand, in der FAZ vom 12.1.2010, dass es sich um eine „seriöse" Biografie handele. Mehr nicht, nur so, seriös. Man wird diese Aussage wohl in die Rubrik „Irgendwas-Sagen" einordnen müssen. Die einzige Information, die uns Professor Döring damit gibt, ist die, dass er Nelsons Biografie nicht gelesen hat. Shapiro vermutlich auch nicht. Sonst könnte er diese Biografie nicht als eine „authoritative und unwirsche dokumentarische" bezeichnen (S. 201). Denn Nelsons Fehler sind gelegentlich nicht mehr allzu weit enfernt von jenen aus dem Archiv der unbekannten Pennäler, wie zum Beispiel der, in dem als Sir Francis Drakes Großtat nicht die „circumnavigation of the earth" („Umsegelung der Erde") genannt wird, sondern die „circumcision of the earth" („Beschneidung der Erde"). Etwas Vergleichbares bietet auch Nelson an, als er „meta incognita" als „unbekanntes Land", „terra incognita" übersetzt.

Vieles von dem, was Shapiro über Freud zu berichten hat, ist dem ersten Kapitel „Freud and the man from Stratford" von Peter Gays Reading Freud: Explorations and Entertainments (New Haven, 1990, S. 5-53) entnommen. Es lohnt sich, Peter Gays Kapitel zu lesen. Man stellt dann fest, dass Shapiro sich nicht nur sehr auf Gay stützt, sondern ihn an mindestens einer Stelle hinterhältig verdreht. Auf Seite 216 kommt er auf Eva Turner Clark zu sprechen, die Mitbegründerin des US-amerikanischen Oxfordianismus. Clark zeichnete sich durch eine hohe quantitative, aber leider nicht immer durch qualitative Produktion aus. Oft genug assoziiert sie schrankenlos. Als Beispiel sei ihr Versuch erwähnt, eine oxfordianische Chronologie zu entwerfen. Eine solche Chronologie muss dann zwangsläufig in den 1570er Jahren beginnen. Nun wurde in der Weihnachtszeit 1576/77 bei Hofe ein Stück The History of Titus and Gisippus aufgeführt, vielleicht nach der Erzählung aus Boccaccios Decameron, vielleicht auch nach der Nacherzählung in Sir Thomas Elyots The Book of the Governor - wir wissen es nicht, das Stück ist verschollen. Für Clark aber gilt es ausgemacht, dass es sich bei dem 1576/77 aufgeführten Stück um Shakespeares Titus Andronicus handeln müsse. Man könnte geneigt sein, scherzhaft zu fragen, ob der richtige Titel von Shakespeares Stück Titus and Ronicus und Ronicus vielleicht ein Spitzname von Gisippus wäre. Shapiro schreibt nun zu Clark: „Ihr Werk war sehr einflussreich und Freud, der es aufmerksam las, war sehr beeindruckt." („Her work was highly influential and Freud, who read it closely, was especially impressed."). Es ist schwer vorstellbar, dass Freud, der sich der Gefahren einer sich keinen Selbstkontrollen unterwerfenden Spekulation gerade auch für die Psychoanalyse sehr bewusst war (Wilhelm Stekel warf er in dieser Hinsicht „Schrankenlosigkeit" vor), von Eva Turner Clarks beeindruckt gewesen sein sollte. Peter Gay (S. 12-13) gibt an, dass Freud zwei Exemplare von Clarks Hidden Allusions in Shakespeare's Plays erhielt; einmal schickte ihm die Autorin selbst ein Exemplar zu; ein anderes Mal erhielt er ein Exemplar von seinem ehemaligen Analysanden, dem amerikanischen Psychoanalytiker Smiley Blanton. In seiner Korrespondenz hat Freud Clarks Buch nie erwähnt (nebst Looney erwähnt er lediglich Canon Gerald Rendalls Shakespeare's Sonnets and Edward de Vere). Shapiros versäumt es, seine Aussage über Freud und Clark zu belegen. Er hat sehr wahrscheinlich keinen Beleg. Es handelt sich wohl um eine ebenso plumpe Behauptung wie die über Alan Nelsons „authoritative Biografie".

Auch Peter Gay hatte nach irgendeiner bewusstseinstrübenden Krise Freuds geschnüffelt, die ihn zu seinem „irrationalen" Eintreten für Oxford als Shakespeare getrieben haben könnte. Für Shapiro war die Ursache: Freud hatte zunächst versucht, seine ödipale Theorie durch Shakespeare und Hamlet zu flankieren. Ursprünglich war Hamlet auf das Jahr 1601 datiert worden, das Jahr in dem William Shakespeares Vater starb. Als dann später das Jahr 1598 als Entstehungsdatum ins Gespräch kam, hätte Freud seine ödipale Theorie bedroht gesehen und sich von dem Mann aus Stratford abgewandt, als John Thomas Looney ihm mit Edward de Vere, Graf von Oxford, einen in seine Theorie besser passenden Kandidaten präsentierte. Indes war Freud ein Pionier und sich klar bewusst, dass seinen Theorien immer etwas Vorläufiges anhaftete. Selbst hat er 1923 in dem Essay „Das Ich und das Es" die Möglichkeit angedeutet, dass der Ödipus-Komplex keine allgemeingültige Grundlage zur Erklärung psychischer Prozesse bieten könne. „Es könnte auch sein, daß die im Elternverhältnis konstatierte Ambivalenz durchaus auf die Bisexualität zu beziehen wäre und nicht, wie ich es vorhin dargestellt, durch die Rivalitätseinstellung aus der Identifizierung entwickelt würde." M. a. W. wäre es auch möglich, von Freud her Hamlet nicht primär aufgrund des Ödipus-Komplexes, sondern der Bisexualität zu interpretieren.

Dass Shapiro Freud gelesen hat, muss nicht bezweifelt werden. Ob er allerdings Freud immer anhand von Freuds eigenem Werk gelesen hat, kann nicht als völlig sicher gelten. Shapiro schreibt fließend. Aber liest er immer auch fleißig?

Wie soll man erklären, dass er Freuds langjährigen Briefpartner Wilhelm Fließ beharrlich „Wilhelm Fleiss" nennt? (insgesamt mindestens sieben  Mal) Es folgt dann ein längeres Zitat, in dem nur von Ödipus die Rede ist. Und dann ein kürzerer Passus, in dem Hamlet als ein Hintergedanke angesprochen wird. „Fleetingly [meine Hervorhebung], the thought passed through my head that the same thing might [meine Hervorhebung] be at the bottom of Hamlet as well." [„Flüchtig ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass gleiches Hamlet zugrunde liegen könnte."]. Man achte auf „fleetingly" und das konjunktivische „might". Hamlet ist nur der Hintergedanke zu Ödipus. Genauso findet es sich in der wenige Jahre später erscheinenden Traumdeutung. Der Schwerpunkt liegt auf die Tragödie des Sophokles. „Im »Ödipus« wird die zugrunde liegende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Licht gezogen und realisiert; im »Hamlet« bleibt sie verdrängt..." Später wird Freud die Erinnerungsarbeit im Ödipus des Sophokles mit der psychoanalytischen Anamnese vergleichen. Aber Shapiro will unbedingt sein Ziel auf der schmalen Spur seiner These erreichen: dass Freud zum Oxfordianer wurde, weil die Lebensdaten des Mannes aus Stratford seine ödipale Theorie bedrohten. Und dies erreicht er mit einer haltlosen Behauptung, die ihn wieder einmal als Meister der dreisten Verdrehung ausweist, als „Großmog(u)ler" der Orthodoxie. „Sophokles' Stück gab der Theorie ihren Namen, aber es war Hamlet, der sie im Wirken des Geistes ihres Urhebers begründete." (S. 181) . Peter Gay stellt ebenfalls eine Verbindung zwischen Freuds Empfindungen nach dem Tod seines Vaters und seinem Interesse an Hamlet her. Hamlet, schreibt Gay, war für Freud der moderne Oedipus Rex. Gay nennt jedoch andere Gründe für Freuds Oxfordianismus. Es scheint mir jedoch sicher, dass Shapiro seine Deutung aus Gays Kapitel „Freud and the Man of Stratford" ausgezogen hat.

Möglich ist allerdings auch, das sollte man der Vollständigkeit halber konzedieren, dass Shapiro tatsächlich seine Schlüsse aus der Korrespondenz zwischen Freud und einem nur wenigen, vielleicht gar nur ihm selbst bekannten „Wilhelm Fleiss" gezogen hat, denn an sich ist es doch äußerst verwunderlich, dass ein Wissenschaftler den Nachnamen eines Autors, mit dem er sich, wie man aus der Sicherheit seiner Schlüsse entnehmen müsste, so intensiv beschäftigt hat, nicht richtig schreibt.

Auf Seite 175 schreibt Shapiro: "There's no denying that Freud, who embraced Lamarckism and claimed that Moses was an Egyptian, was drawn to unconventional views." [„Es kann nicht geleugnet werden, dass Freud, der sich zum Lamarckismus bekannte und behauptete, Moses sei ein Ägypter, sich zu unkonventionellen Ansichten hingezogen fühlte."]. Auch das geht wohl auf Gay, Seite 35, zurück („he later offended not only the pious but also rationalist scholars by insisting that Moses must have been an Egyptian. Quite as defiantly.in the teeth of unanimous rejection on the part of responsible biologists, he persisted in arguing for the Lamarckian theory that acquired characteristics can be inherited." Freuds Thesen zu Moses stützten sich teilweise auf seinerzeit jüngste Erkenntnisse der Ägyptologie und der Archäologie. Jan Assmann (Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München 1998), einer der angesehensten heutigen Ägyptologen, hat Freud inzwischen wohl endgültig ins Recht gesetzt, wenn auch nicht der Theorie, so doch dem Ergebnis nach: Moses war ein Ägypter. Freud, immer mit einem Auge fürs Detail, hatte bereits darauf hingewiesen, dass Moses eigentlich ein typisch ägyptischer Name sei, dass Moses offenbar die Sprache der Israeliten nicht einwandfrei zu sprechen vermochte, usw. Jan Assmann würdigt Freuds Beitrag durchaus: „Freuds Moses-Buch ist ja in den letzten Jahren (endlich, möchte man sagen) Gegenstand einer weltweiten, äußerst lebhaften Diskussion geworden." (dort S. 64)

Wer weiß, ob Freud auch in Bezug auf den Mann Shakespeare nicht einmal von der Wissenschaft (zu der man Shapiros Buch wohl schwerlich wird zählen können) ins Recht gesetzt wird.

Freuds Lamarckismus ist wohl eher ein Neo-Lamarckismus, wie er Ernst Haeckels (1834 -1919) Rekapitulationstheorie zugrunde lag, jener Theorie, die besagt, dass sich die Phylogenese (die Werdung der Spezies) gleichsam im Zeitraffer in der Ontogenese (die Werdungs des Einzelwesens) wiederholt, „rekapituliert" also. Die Theorie setzt Lamarcks Hypothese der Vererbbarkeit angeworbener Eigenschaften voraus (Haeckel war im übrigen ein sehr streitbarer Darwinist). Freud brauchte eine solche Theorie als biologische Begründung für den Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Psyche. Der Ausdruck „Lamarckismus" erweckt den Eindruck, als sei Freud ein unmittelbarer Anhänger von Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) gewesen. Lamarck war jedoch einer der ersten Evolutionstheoretiker. Er war alles andere als ein Kreationist, auch wenn seine Evolutionstheorie bald von der Charles Darwins überholt wurde. Shapiro scheint jedoch suggerieren zu wollen, dass Freud einigen bizarren Ideen anhing. Warum er den Lamarckismus erwähnt, darauf scheint das Zitat Stephen Jay Goulds auf Wikipedia eine Antwort geben zu können. Gould argumentiert, dass "die Beschränkung des 'Lamarckismus' auf ein relativ kleines und nicht charakteristisches Stückchen von Lamarcks Denken schlimmer als eine Fehlbenennung ist und wahrhaftig als eine Diskreditierung des Andenkens an einen Mann und sein sehr viel umfassenderes System zu bewerten ist."

Das deckt sich mit Shapiros Strategie im Kapitel über Bacon: sich großzügig zeigen gegenüber Gescheiterten wie Delia Bacon und dem oxfordianischen Prince-Tudor-Theoretikern Percy Allen und gleichzeitig versuchen, den Riesen wie Freud, Mark Twain oder Henry James das Etikett der Entgleisung in die Bizarrerie anzuheften.

Möglicherweise war es die Konzentration auf dieses Ziel, die ihn mehr als einmal des Sehvermögens beraubt hat.

© Robert Detobel 2010