Frage 16

Kann es uns beunruhigen, dass es Lücken in den historischen Aufzeichnungen gibt?

[Andrew Hadfield, Professor für Englisch an der University of Sussex, und Autor von „Shakespeare and Republicanism", und „Edmund Spenser: A Life", antwortet für den  SBT:]

Es erstaunt mich immer, dass die Menschen über Lücken in den Aufzeichnungen über das Leben der Menschen in der frühen Neuzeit überrascht sind. Sie verlangen, oft schrill, dass diese erklärt werden müssten, sonst würden sie annehmen, dass es eine Art von Vertuschung gewesen sei. Aber wir wissen sehr wenig über die meisten Menschen außerhalb der oberesten Ränge der Gesellschaft. Und Biographien wurden geschrieben, um exemplarische Geschichten zu erzählen. So hat sich kaum etwas über Schriftsteller erhalten, bis die Dinge sich im späteren siebzehnten Jahrhundert verändert haben. Persönliche Briefe sind kaum erhalten, Papier war knapp und wurde immer wieder verwendet, und so sollten wir nichts in den Mangel an Shakespeare Briefen hineinlesen. Auch sollten wir nicht überrascht sein, dass Shakespeares Testament keine Gegenstände wie Bücher erwähnt. Testamente nannten eher nur wichtige und wertvolle Gegenstände, alles andere ging an die nächsten Angehörigen.

Obwohl Thomas Nashe, soweit ich weiß, der einzige englische Schriftsteller ist, der jemals die Behörden zur Schließung der Theater und Druckereien zwang, was ihn zu einer Berühmtheit machte, wissen wir nicht, wann oder wie er starb. Spuren von Shakespeare, obwohl spärlich, bedürfen keiner besonderen Erklärung. Oder alternativ könnten wir uns vorstellen, dass eine ganze Reihe von Schriftstellern im späten sechzehnten Jahrhundert Betrüger waren.

Erwiderung:

Tagsächlich sind in den Aufzeichnungen aus der elisabethanischen und jakobinischen Zeit Lücken zu erwarten. Aber Lücken sind etwas anderes als vollständiges Fehlen. Vor allem dann, wenn Berichte über andere sich erhalten haben. Tätigkeiten hinterlassen Spuren, auch wenn einige nach vierhundert Jahren verschwunden sind. Einige sollen erhalten noch existieren. In Shakespeare's Unorthodox Biographie (2001) untersucht Diana Price die schriftlichen Spuren von 25 Schriftstellern aus der Zeit und verwendet dabei alle vorhandenen veröffentlichen Biografien. Sie ordnet die verschiedenen Arten von Hinweisen in 10 Kategorien, um ihre Schriftstellerlaufbahn zu dokumentieren: Nachweise über Bildung, über den Besitz von Büchern oder geliehene Bücher, Briefe über literarische Fragen usw. Nur bei Ben Jonson konnte sie Nachweise in allen zehn Kategorien finden.

Wie erwartet gibt es für Schriftsteller große Lücken. Bei 10 von den 25 haben wir keine Aufzeichnungen über Korrespondenzen. Bei 15 sind keine Originalmanuskripte erhalten geblieben oder Nachweise über den Besitz von Büchern. Die von Price dargelegten Daten zeigen, dass es für Thomas Nashe tatsächlich kein „Hinweis über einen Tod als Dichter" existiert. Aber Nashe hat nach Jonson die umfangreichsten schriftlichen Spuren hinterlassen und Nachweise in den anderen 9 Kategorien. Bei Edmund Spencer finden sich Nachweise in 7 der 10, und selbst Marlowe, der nach offiziellen Angeben im Alter von 29 Jahren starb, in 4 der 10 Kategorien (genauso Francis Beaumont, John Fletscher und Thomas Kyd). John Webster wäre der letzte in dieser Aufzählung mit Nachweisen in nur 3 Kategorien - außer einer extremen Ausnahme: Mit keinem Nachweis in allen 10 Kategorien steht William  S h a k s p e a r e  am Ende. Mit anderen Worten: Es gibt keine eindeutigen Nachweise aus seinem Leben, die zeigen, dass er ein Dichter war. Angesichts des Umfangs an Zeit und des Aufwands, um Beweise für ihn zu suchen, kann das Fehlen an schriftlichen Spuren nicht als eine Art "Zufall" beschrieben werden.

Er hat tatsächlich schriftliche Spuren hinterlassen, nur keine in Bezug auf Literatur. Ungefähr 70 Dokumente zeigen, dass er Grundstücke, Immobilien und Getreide gekauft und verkauft hat. Er hat Geld verliehen und Schulden eingetrieben. Jeder objektive Beobachter müsste daraus schließen, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann war, vielleicht ein Schauspieler und Teilhaber an Theatern, vielleicht auch eine Art von Theatermanager - aber kein Dichter. Wie kann es sein, dass so viele verschiedene Dokumente erhalten geblieben sind und dennoch keines über seine Tätigkeit als Schriftsteller? Ein Stratfordischer Gemeinplatz sagt: „Die Abwesenheit von Beweisen ist kein Beweis von Abwesenheit." Allerdings ist die Abwesenheit von erwarteten Beweisen sehr wohl ein Beweis für Abwesenheit. Die Stratfordianer können nicht nur das auffallende Fehlen von erwarteten Nachweisen über die berufliche Laufbahn des Mannes nicht erklären (gestützt auf das, was wir bei anderen Schriftstellern finden), sondern sie bleiben bei einer Verdrängung des gesamten Problems.

Shakespeare's Unorthodox Biography: New Evidence of an Authorship Problem, by Diana Price (Greenwood Press, 2001).

- Michael D. Rubbo, M.A., Stanford University; Director, "Much Ado About Something," the award-winning documentary on the case for Christopher Marlowe as Shakespeare

Übersicht         zurück        weiter