Shapiro-Tagebuch (10) Die unterschlagene externe Evidenz

Shapiro datiert in seiner „Beweiskette" Timon von Athen auf „1605 bis 1608". (siehe Shapiro-Tagebuch (8) und (9)). Es ist notwendig, genauer hinzusehen.

Ein Stück zu datieren ist nicht immer einfach. Das äußerste Datum ist das Erscheinen im Druck. Wie lange vorher es aber geschrieben und aufgeführt wurde, lässt sich aus dem Erscheinungsjahr nicht mit Gewissheit ableiten.

Einige Beispiele:

Der zweite und dritte Teil von Heinrich VI. erschienen zum ersten Mal anonym in Druck; der zweite Teil 1594 unter dem Titel The First Part of the Contention betwixt the two famous Houses of York and Lancaster, der dritte Teil 1595 unter dem Titel The True Tragedy of Richard Duke of Yorke, letzteres mit der zusätzlichen Information auf der Titelseite, dass es vom Ensemble der Pembroke's Men aufgeführt wurde. Das Ensemble löste sich 1593 auf. Folglich muss dieses Stück 1593 oder davor aufgeführt worden sein.

Es wird jedoch noch mindestens um ein Jahr früher datiert. Am 29. September 1592 erscheint die Erzählung Greene's Groatsworth of Wit, in der ein Brief enthalten ist, der gedeutet wird, vor Shakespeare zu warnen.

 „Nein, traue ihnen nicht, denn da ist eine emporsteigende Krähe, geschmückt mit unseren Federn, einer, der mit seinem Tigerherzen, in Schauspielerhaut gesteckt, glaubt, genauso gut einen Blankvers ausbombasten zu können wie der beste von Euch; und dieser absolute Hansdampf in allen Gassen dünkt sich selbst der einzige Bühnenerschütterer im Lande."

Im englischen Original steht für „Bühnenerschütterer" „Shake-scene". Damit, so die orthodoxe Theorie, soll Shakespeare gemeint sein, zumal der Ausdruck „mit seinem Tigerherzen, in Schauspielerhaut gesteckt", „a tiger's heart wrapped in a player's hide" auf den dritten Teil von Heinrich VI., Akt I, Szene 4, angespielt werde, wo der Herzog von York über König Margaretha sagt „O tiger's heart wrapp'd in a woman's hide"  (der Ausdruck befindet sich auch in der gleichen Szene des Vorläuferstückes True Tragedy of Richard Duke of York) .    

Shakespeares Julius Caesar zum Beispiel wurde erst 1623 gedruckt. Es existiert jedoch externe Evidenz, dass das Stück bereits 1599 aufgeführt wurde. Ein ausländischer Besucher berichtet von einem Stück über Julius Caesar, das er 1599 in einem Theater am Südufer der Themse gesehen hat. Man nimmt an, dass es sich bei diesem Theater um den Globe handelt. Es existieren zusätzlich zwei andere Beweise für das Jahr 1599. Ein Zeitgenosse spielt 1599 auf das Stück an und ein anderer Zeitgenosse, Ben Jonson, ebenfalls in seinem 1599 uraufgeführten und 1600 gedruckten Stück Every Man Out of His Humour. In Akt III, Szene 1, Zeile 193 lässt Jonson einen seiner Charaktere sagen: „Reason long since is fled to animals", eine Anspielung auf Shakespeares Stück, III.2.106 „O judgment, thou art fled to brutish beasts."

Noch deutlicher erkennbar als Anspielung auf ein Shakespeare-Stück ist eine Stelle in Akt II, Szene 2 von Ben Jonsons im Herbst 1601 uraufgeführter und im Frühjahr 1602 gedruckter Komödie Poetaster.

Albius. Ladies and Lords, da drinnen steht ein leichtes Bankett für euch,
         kommt bitte näher und bedient euch.
Julia.  Wir danken euch, guter Albius: aber wann werden diese prächtigen
         Juwelen sehen, die zu haben ihr gepriesen wurdet.
Albius. Zu euren Diensten, Lady [beiseite]. Ich schnappte diese Redensart
         aus einem Stück auf, das ich neulich sah; ich stelle fest, dass es
         manchmal gut, so was zu sammeln; jetzt kommt es mir zustatten.
         Ich werde mir solche Stücke häufiger als bisher ansehen, da ich
         jetzt mit Höflingen verkehre.

Albius. Ladies and lordings, there's a slight banquet  stays within for you,
         please you draw near an accost it.
Julia.  We thank you, good Albius: but when shall we see those excellent
         jewels you are commended to have.
Albius. At your ladyship's service [Aside] I got that speech by seeing a play
         last day, and it did me some grace now; I see 'tis good to collect
         sometimes. I'll frequent these plays more than I have done, now I come
         to be familiar with courtiers.

Ben Jonson lässt also Albius aus einem Stück zitieren, das dieser neulich gesehen hat. Das „neulich" muss sich auf den Zeitpunkt der Aufführung von Jonsons Poetaster beziehen. Folglich muss es 1601 oder nicht lange davor aufgeführt worden sein. Es handelt sich um Timon von Athen, Akt 1, Szene 2.

Timon.     Ihr Frauen, dort findet ihr ein leicht' Bankett.
              So gütig seid, euch selber zu bedienen.
Timon.     Bring mir das kleine Kästchen.
Flavius.    Sogleich, Mylord (Beiseit) Noch immer mehr Juwelen.

              [Übersetzung von Dorothea Tieck]

Timon.     Ladies, there  is an idle banquet attends you.
              Please you to dispose yourselves (Zeilen 151-2)
Timon.     The little casket bring me hither.
Steward.  Yes, my Lord [Aside]
              More jewels yet! (Zeilen 155-6)

Es existiert eine andere zeitgenössische Komödie: Timon. Lange Zeit war diese Komödie nur als Manuskript vorhanden. Erst im 19. Jahrhundert wurde sie gedruckt. Sie ist als Quelle für Timon von Athen in Betracht. Ben Jonson zitiert jedoch nicht aus Timon, sondern aus Timon von Athen: das letztere Stück enthält die Stelle nicht, auf die Jonson anspielt. 1966 hat Muriel Bradbrook die Komödie Timon eingehender analysiert ('The Comedy of Timon: A Reveling Play of the Inner Temple' , Renaissance Drama, 9, 1966, 83-103). Sie stellt die These auf, dass Timon eine Parodie auf Timon von Athen ist, also später als letzteres Stück entstanden sein müsse. Da sie jedoch an dem orthodoxen Entstehungsjahr 1608 für Timon von Athen festhält, datiert sie den Timon auf 1611.

James C. Bulman Jr. („The Date and Production of 'Timon', Shakespeare Survey, 27, 1974, 111-127) leugnet Bradbrooks These nicht, wohl aber das Datum. Aus einer Anspielung in Timon auf "Seven Stars" leitete er ab, dass es sich hierbei um eine Taverne handeln müsse. Er fand sie auch, nur in der Nachbarschaft einer anderen Anwaltsinnung, Lincoln Inn, nicht Inner Temple. Bulman fand weiter heraus, dass diese Taverne 1602 eröffnet worden war. Er schließt daraus, dass Timon wahrscheinlich 1602 im Lincoln's Inn aufgeführt wurde.

Wenn Timon von Athen 1601 (vielleicht ebenfalls in einer Anwaltsinnung, Middle Temple etwa) aufgeführt wurde, treffen hier zwei Thesen zusammen. Dann konnte Ben Jonson 1601 auf das Stück als neulich zur Aufführung gekommen anspielen und der anonyme Verfasser von Timon es ein Jahr später parodieren.

Nur die orthodoxe Datierung 1608 für Timon von Athen stimmt nicht. Ebensowenig die vagere Zeitangabe „zwischen 1605 und 1608", die Shapiro bevorzugt.

Haben die Shakespeare-Forscher diese Anspielung in Jonsons Poetaster übersehen? Keinesfalls. C. H. Herford und Percy Simpson weisen in ihrer zwischen 1925 und 1954 erschienenen Ausgabe von Ben Jonsons Gesamtwerk darauf hin. Nur vermeiden sie die daraus zu ziehende Schlussfolgerung in Bezug auf die orthodoxe Chronologie von Shakespeares Bühnenstücken mit der billigen Ausrede, es handele sich um eine standardmäßige höfische Redensart. Und Albius' Satz, dass er dies einem neulich gesehenen Stück entnommen hat, wird ganz unterschlagen.

© Robert Detobel 2010