Shapiro-Tagebuch (31) James Shapiro, Niklas Luhmann und ein Tölpel
Jetzt, meine Herren, könnt Ihr lachen, wenn
 Ihr wollt, denn hier kommt ein Tölpel
."
 (Return from Parnassus, Teil I)

A.

Ein von Niklas Luhmann geprägter Begriff lässt sich auf jenen Teil von Shapiros Buch anwenden, in dem er zu zeigen versucht, wie gut, in Fleisch und Blut, Zeitgenossen den Mann aus Stratford kannten. Luhmann verstarb 1998, er kann Shapiros Bücher 1599 -A Year in the Life of William Shakespeare und Contested Will nicht gelesen haben, es ist auch zweifelhaft, ob er sie vorausgeahnt haben könnte. Er hat in einem Interview einen Satz formuliert, der seinerzeit und vor seiner Zeit galt, heute noch gilt und wahrscheinlich auch in Zukunft gelten wird. Sinngemäß sagte Luhmann in einem Interview:

"Wenn das Verständnis und die Argumente sich verdünnen, wird im Blablativ-Kasus geredet " (Ergänzung hier).

Shapiros Ansatz selbst ist, sofern es um die Zweifler geht, subversiv. Er setzt sich nicht mit deren sachlichen Argumenten auseinander, sondern mit den psychischen Substraten, die er darunter vermutet. Selbst auseinandersetzen muss er sich jedoch wohl oder übel mit dem Mann aus Stratford. Er tut es so:

„Shakespeare war eine lebendige, atmende Präsenz, einer, dessen Gedichte sie auswendig kannten, dessen literarische Übungen sie genau verfolgten, so dass sie sich vorstellen konnten, eine Kopie seines Bildes in ihren Zimmern zu haben."

Diesen Hinweis verdankt Shapiro dem Theaterstück The Return from Parnassus.

Um die Wende zum 17. Jahrhundert führten Studenten an der Universität Cambridge, jeweils zur Weihnachtszeit, drei Stücke auf, in denen es um die missliche soziale Lage junger Akademiker ging: The Pilgrimage to Parnassus, The Return from Parnassus, erster Teil und zweiter Teil. In den beiden letzten Stücken ist von Shakespeare die Rede (der zweite Teil wurde 1601 aufgeführt).

B. The Return from Parnassus, Teil I

Im dritten, vierten und fünften Akt tritt eine Person namens Gullio auf, der sich von dem Akademiker Ingenioso Liebesgedichte für seine verehrte Dame schreiben lässt. Im dritten und vierten Akt ist zudem von Shakespeare die Rede.

In jedem der drei Parnassus-Stücke kommt eine alberne Person vor. In Pilgrimage to Parnassus heißt, sie erkennbar genug, Stupido. In Return from Parnassus, Teil I, heißt diese Person Gullio, auch erkennbar genug, denn der Name leitet sich von „gull" ab, „Tölpel". In Akt III wird er von Ingenioso eingeführt: „Nowe, gentlemen, you may laughe if you will, for here comes a gull."

Gullio selbst führt sich gleich mit einem Auftritt als maßloser Aufschneider ein. Er brüstet sich damit, in Italien einen Polen, Deutschen und Holländer mit seinem Toledo-Schwert getötet zu haben, weil sie nicht auf Englands Heil schwören wollten. Er sagt von sich selbst, dass er am Hof nie zweimal in der gleichen Kleidung erscheine und das gleiche Paar Stiefel nie länger als zwei Stunden trage. Und Ingenioso seufzt, es werde sein Glück sein, nicht anders zu Tode zu kommen, als durch das Anhören seiner dämlichen Sprüche, die, befürchtet er, eine tödliche Krankheit in seinen Ohren verursachen würden.

Gullio ist auch ein feuriger Bewunderer von Shakespeares Poesie. Ingenioso bemerkt beiseite: „Wir werden jetzt nichts anderes als reinen Shakespeare und Poesiefetzen hören, die er in den Theatern gesammelt hat."

Gullio hat offenbar Shakespeares Venus und Adonis gründlich gelesen (er hat kurz vorher auch eine Anleihe an Romeo und Julia gemacht). (Genaueres siehe hier)
Es ist die einzige Beschäftigung, die Ingenioso nach Abschluss seines Studiums und nachdem er vom Parnassus, dem Dichterberg, zurückgekehrt ist, gefunden hat: Verse für den Tölpel Gullio zu schreiben, damit dieser sie seiner geliebten Dame, Lady Lesbia, vortragen kann. Die Verse sollen im Stile Chaucers, Gowers, Spensers oder Shakespeares geschrieben werden. Aber Gullio zieht Shakespeare doch den drei anderen vor. „Süßer Shakespeare", ruft er aus, „ich werde sein Bild in meinem Zimmer bei Hofe aufhängen."

In Akt IV hat Ingenioso drei Gedichte geschrieben. (Genaueres siehe hier)

Gullio ist jetzt Feuer und Flamme.

„Mag diese hirnverbrannte Welt Spenser und Chaucer schätzen, ich werde den süßen Mr. Shakespeare verehren, und ihm zu huldigen werde ich seinen Venus und Adonis unter mein Kopfkissen legen, wie jener, wie ich irgendwo gelesen habe, mit Homer am oberen Ende seines Bettes zu schlafen pflegte. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen, aber er war sicher ein König."

Dieses Lob auf Shakespeare aus Gullios Mund ist eine reine Parodie, mehr auf Gullio und seine dümmlichen Nachahmungen des Hofmannes denn auf Shakespeare.

C. The Return from Parnassus, Teil II

Es werden darin zwei Kollegen Shakespeares dargestellt, Richard Burbage und William Kempe. In Akt IV, Szene 3 sagt Kempe:

 „Wenige von Akademikern geschriebene Stücken lassen sich gut spielen; sie schmecken zu sehr nach diesem Dichter Ovid und diesem Dichter Metamorphosen und pläppern zuviel von Proserpina und Jupiter. Eh, hier ist unser Kumpel Shakespeare, der sie alle schlägt - ja, und Ben Jonson dazu. Oh, dieser Jonson ist ein Pestkerl; er brachte Horaz auf die Bühne, um den Dichtern eine Pille zu verabreichen; aber unser Kumpel hat ihm ein Abführmittel verpasst, das ihm das Ansehen verkotzt hat."

Die Pille reichte Ben Jonson den Dichtern Demetrius (Thomas Dekker) und Crispinus (John Marston) in seiner im Herbst 1601 aufgeführten Komödie Poetaster ab. Was war die Pille, die Shakespeare Ben Jonson zu schlucken gab? Es kann hier nicht näher darauf eingegangen werden, aber es kann nicht daran gezweifelt werden, dass es die Ajax-Figur in Troilus und Cressida war. Der Verfasser war sicher ein fleißiger Theaterbesucher und Leser der Literatur seiner Zeit. In Akt I, Szene 2, passieren ein gutes Dutzend Schrifsteller Revue, darunter Christopher Marlowe, Samuel Daniel, Ben Jonson und Shakespeare. Das Urteil über Shakespeare ist positiv, aber nicht überschwänglich:

„Who loves Adonis' love or Lucrece's rape,
His sweeter verse contains heart-robbing life,
Could but a graver subject him content,
Without love's foolish, lazy languishment."

"Wer Adonis' Liebe liebt oder Lucrezias Schändung, seine besseren Verse enthalten herzzerreißendes Leben, könnte er sich nur einem ernsteren Thema zuwenden, ohne das närrische, träge Schmachten der Liebe."

Praktisch alle Urteile über Schriftsteller betreffen lediglich ihr Werk; nur bei Ben Jonson wird erwähnt, dass er das Maurerhandwerk ausgeübt hat.

Um diese Zeilen über Shakespeare zu schreiben, bräuchte der Verfasser nicht zu wissen, wer Shakespeare war. Um zu wissen, dass Ben Jonson zwei Dichtern und Shakespeare seinerseits Ben Jonson eine Pille verabreicht hatte, brauchte er nur die Stücke gesehen zu haben, die kaum mehr als ein Jahr vor dem zweiten Teil von Return from Parnassus aufgeführt worden waren. Das Aufführungsdatum muss (auch aus anderen Andeutungen kann man es ableiten) Weihnachten 1602 gewesen sein, Jonsons Stück wurde im Herbst 1601 aufgeführt und war Anfang 1602 gedruckt, Shakespeares Stück muss eine Zeit vor der Eintragung ins Stationers' Register im Februar 1603 aufgeführt worden sein (es wurde erst 1609 gedruckt).

Die Zeilen, die er den Schauspieler William Kempe (bekannt für seine Clownsrollen) sprechen lässt, zielen in erster Linie darauf, die mangelnde Bildung des Schauspielers Kempe zu verhöhnen. Im Stück hält Kempe hält die Metamorphosen (von Ovid) für einen Schriftsteller! So ungebildet war William Kempe in Wirklichkeit wohl nicht. Weder Kempe noch Burbage sind realistisch gezeichnete Figuren. Außerdem: es mutet befremdlich an, dass Kempe die akademischen Bühnenschriftsteller abgewiesen haben sollte, weil sie zu sehr nach Ovid schmeckten, Shakespeare jedoch nicht. Wenn im elisabethanischen England ein Dichter überhaupt nach Ovid schmeckte, wer sonst war es als der „englische Ovid" Shakespeare?

D. Shapiros Blablativ

„Shakespeare war eine lebendige, atmende Präsenz, einer, dessen Gedichte sie auswendig kannten, dessen literarische Übungen sie genau verfolgten, so dass sie sich vorstellen konnten, eine Kopie seines Bildes in ihren Zimmern zu haben."

„Shakespeare was a living, breathing presence, one whose poetry they knew by heart, whose literary sparring they followed closely, and a copy of whose portrait they could imagine displaying in their rooms."

Sie? Wer sind „sie"? Nicht „sie", nur von „ihm", dem einen, kann Shapiro dieses Wissen bezogen haben: Gullio, dem Tölpel.

Wenn sich Shapiro von einem Tölpel übertölpen lassen will, sollen wir ihm darin doch nicht folgen.

© Robert Detobel 2010