Frage 23

Wie reagieren Sie als Schauspieler und Regisseur auf die Shakespeare-Verfasserschafts-Verschwörungs-Theorie?  

[Janet Suzman, besonders in den Klassikern geschult. Sie sieht Shakespeare als modernen Dramatiker an (vergl. ihre Produktion von „Othello" in Südafrika der Apartheid), antwortet für den SBT:]

Ich frage mich, warum Leute meinen, man müsse etwas persönlich erfahren haben, um darüber schreiben zu können. Autoren arbeiten so nicht. Man muss kein König gewesen sein, um einen König zu spielen. Wenn wir von Schauspielern nicht erwarten, dass sie das gewesen sein müssen, was sie zu spielen haben, wieso dann von einem Dichter? Es hat keinen Sinn.
Er ist ein Surrealist oder auch ein Super-Realist, seine Figuren, seine Gedanken, seine Anschauungen über die Menschheit sind sehr viel größer als das Leben selber. Es mag das alles wahr sein, aber es ist kein dokumentarischer Realismus. Dokumentarischer Realismus hat nichts mit diesem Dichter zu tun. Er ragt weit aus dieser Ebene heraus.
Er schreibt sehr viel über Schein und Wirklichkeit - das sollten wir in Betracht ziehen, wenn jemand denkt, dass er das nicht hätte schreiben können.
Und dann verstehe ich nicht, warum die Leute in der Zeit nicht getratscht haben sollten. Klatsch gehört zur menschlichen Natur.

 Erwiderung:

Autoren schreiben aus ihrer Fantasie, aber ihre Vorstellungen müssen auf ihren Erfahrungen beruhen. Eugene O'Neill, Tennessee Williams, Ibsen, Strindberg, Aphra Behn, Ben Jonson und Geoffrey Chaucer (um nur einige Beispiele zu nennen) stützten sich auf ihre Lebenserfahrungen. Shakespeares Dramen offenbaren ein Wissen aus erster Hand über den Hof, über Politik, militärische Taktik, Seefahrt und Auslandsreisen, was auf einen Autor hindeutet, der sehr wenig dem Mann aus Stratford ähnelt.

Ein Dramatiker braucht nicht ein König, eine Königin, ein Höfling, Soldat oder Matrose gewesen zu sein, um über sie zu schreiben zu können, aber die erfolgreichsten Beschreibungen beruhen auf genauer Beobachtung. Schauspieler müssen nichts über den Dramatiker wissen, aber die Charaktere und andere komplexe Aspekte lassen sich leichter ausdrücken bei Kenntnis der Biografie des Dramatikers. Das Wissen, dass der Autor in der Nähe von Königen und Königinnen gelebt hat, dass er in Italien war und sich lange in Venedig aufhielt, verbindet die Phantasie des Schauspielers mit lebensechten Realitäten.


Shakespeares "Super-Realismus" ist wirkungsvoll, weil der Dichter
nicht von der Wirklichkeit getrennt war.
Seine beredten Darstellungen stammen aus einer tiefen Erfahrung des Lebens, die dadurch eine große Höhe gewinnen.

Jemand klatscht mit seinesgleichen. Der junge  S h a k s p e r e , gerade aus Warwickshire angekommen, müsste als  Aufsteiger außergewöhnlich erfolgreich gewesen sein, um durch Klatsch an die Insider-Informationen gekommen zu sein, die in bestimmten relativ frühen Spielen wie Verlorene Liebesmüh ' oder Ein Sommernachtstraum zu finden sind. Nur jemand, der in die höfische Welt eintauchen konnte - bloßer Klatsch reicht nicht aus -, kann der wahre Autor von Stücken wie diesen sein, so phantasievoll wie sie auch sein mögen.

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Kristin Linklater, Professur für Theatre Arts an der Columbia University School of the Arts

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