Frage 28

Unterscheidet sich Shakespeares dramatischer Vers von dem Marlowes?

[Antony Sher, in Südafrika geborener britischer Schauspieler, Schriftsteller, Theaterdirektor und Maler; hat in Stücken Shakespeares und anderer Schriftsteller der Zeit zahlreiche Rollen gespielt, antwortet für den SBT.]

Als Schauspieler schmeckt man die Sprache unterschiedlicher Autoren; man schmeckt sie buchstäblich auf der Zunge. Shakespeare ist voller subtiler, komplexer, raffinierter Sprachschöpfungen; Marlowe ist weniger gehobelt, rauer. Und dann ist da der Gebrauch des jambischen Pentameters. Marlowes „mächtige Zeile" hat etwas von einem regelmäßigen Stampfen. Shakespeare ist wie ein meisterlicher Jazzmusiker, der gleichzeitig Konsonanz und Dissonanz zum Tönen bringt. Was nun die Leute betrifft, die meinen, Marlowe sei nicht ermordet worden, sondern habe weiter gelebt und Shakespeares Stücke geschrieben, antworte ich, dass ich dies für schlicht unmöglich halte. Shakespeare kann nicht Marlowe gewesen sein - oder irgendein anderer.

Erwiderung:

Antony Sher ist für seine Darstellung Tamburlaines gelobt worden, aber unseres Wissens ist dies der einzige Charakter Marlowes, den er gespielt hat. Hätte er außer Tamburlaine auch noch Faustus, Barabas und Mortimer gespielt (deren Nachfolger Prospero, Shylock und Gloucester hat er wohl gespielt), so hätte er feststellen können, wie rapide sich Marlowes Stil in kurzer Zeit von dem „dröhnenden Ton" Tamburlaines fortgebildet hat. Weiter wurden die Rollen des Leontes und des Prospero, folgt man der orthodoxen Chronologie, mehr als zwanzig Jahre nach Tamburlaine geschrieben, lange genug, um einen sehr unterschiedlichen Stil zu entwickeln, was Shers Vergleich außer Betracht lässt.

Die allgemeine Entwicklung vom regelmäßigen jambischen Pentameter mit seiner strikten Zehnsilbigkeit und der unvermeidbaren Pause am Ende jeder Zeile zum "jazzartigen" Rhytmus begann und setzte sich fort mit Marlowe durch Shakespeares Laufbahn hindurch. Zum Beispiel werden Marlowe im Durchschnitt 13 weiche Endungen zugeschrieben (eine elfte Silbe) und Enjambements (keine Pause am Ende einer Zeile) pro 100 Verszeilen. Nach Marlowe verdoppelten sich diese Zahlen in den 12 Shakespeare-Stücken, die Francis Meres 1598 aufführt, auf eine durchschnittliche Häufigkeit von 26, während sich diese Häufigkeit in Shakespeares späten Stücken auf einen Durchschnitt von nicht weniger als 63 pro 100 Zeilen erhöhen. Der Gesamttrend der Marlowe- und Shakespeare-Stücke ist bemerkenswert eben, wie man es von einem einzelnen talentierten Autor erwarten würde. Dass man Marlowe den „Vorboten Shakespeares", „seinen Lehrer und Führer" genannt hat und dass Shakespeare Marlowes Werk „imitiert" und „nachgeeifert" hat, ist sehr verständlich.

In Anbetracht dessen und dass weiter große Künstler (Mozart, Picasso, Henry James) über die Zeit ihren Stil signifikant änderten, wäre es da nicht verwunderlich, dass jene Rolle anders „ schmeckten ", selbst wenn sie von dem gleichen Autor geschrieben wurden?

- Ros Barber, Ph.D. (Englische Literatur), Dichterin und Autor von The Marlowe Papers (Sceptre 2012)-  ein vollständig in jambischen Pentametern geschriebener Roman.

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