Frage 33

Welche Beweiskraft muss der 1623 erschienenen Gesamtausgabe der Shakespeare-Stücke zugesprochen werden?

[David Bevington, Phyllis Fay Horton Distinguished Service Professor Emeritus in the Humanities at the University of Chicago, antwortet für den SBT.]

Der sieben Jahre nach seinem Tod 1623 erschienenen Folioausgabe der Shakespeare-Stücke von 1623 kommt für die Beantwortung der Frage, was er wirklich geschrieben hat, außerordentliche Bedeutung zu. Etwa die Hälfte aller in dieser Folioausgabe enthaltenen Stücke, darunter Macbeth, Antony and Cleopatra und The Tempest, waren vorher noch nie gedruckt worden und wären andernfalls vielleicht nie auf uns gekommen. Die enthaltenen Stücke decken sich in vielen Fällen mit anderen Beweisen, dass er der Verfasser dieses oder jenes Stückes ist. Die Herausgeber John Heminges und Henry Condell, Shakespeares langjährige Schauspielerkollegen im Ensemble der King's Men, hatten Zugriff auf Entwürfe und Manuskripte der Stücke, die für die Aufführung benutzt wurden. In Vorworten zu der Ausgabe lobten angesehene Intellektuelle und Schriftsteller, allen voran Ben Jonson, den Autor. In der ersten Folioausgabe zögerte Ben Jonson nicht, Shakespeares Genie als Tragödiendichter mit Aischylos, Sophokles und Euripides auf eine Stufe zu stellen und ihn als den größten Komödiendichter aller Zeiten zu preisen, ein wahrhaft überwältigendes Lob von einem Manne, der für seine unerschütterliche intellektuelle Integrität bekannt war. Dass Ben Jonson und soviele andere sich zu dem Schwindel hätten verführen lassen, Shakespeare für seine Stücke zu preisen, wenn er sie nicht selber geschrieben hätte, oder dass er sich zu einer breitflächigen Verschwörung hergegeben hätte, um eine Lüge hinsichtlich der Verfasserschaft ein für allemal festzuschreiben, ist schlicht undenkbar.

Erwiderung

Mit achtzig Prozent dessen, was David Bevington zu der Bedeutung des Ersten Folios sagt, stimmen wir überein. Allerdings hat sich Ben Jonson „nicht auf einen Schwindel eingelassen". Er lobte Shakespeare - zu Recht. Die Stücke erschienen unter dem Namen Shakespeare, ganz wie Mark Twains Werke unter dem Pseudonym Mark Twain erschienen. Die Frage, um die es geht, ist, ob „William Shakespeare" ein Pseudonym war. Es sei hier bemerkt, dass das Erste Folio nichts enthält, was die Stücke klar und unmissverständlich  S h a k s p e r e  aus Stratford-upon-Avon zuwiese.
Anzeichen für eine "breitflächige Verschwörung, um ein für allemal eine Lüge festzuschreiben", gibt es nicht." Die Zweifler an der herkömmlichen Zuweisung behaupten so etwas nicht. Sie gehen keineswegs von einer „breitflächigen Verschwörung" aus; einer Verschwörung bedurfte es nicht. Aber gewisse Vertreter der Orthodoxie behaupten, dass die Zweifler es behaupten, um diese als „Verschwörungstheoretiker" diskreditieren zu können. Wenn ein Schriftsteller ein Pseudonym benutzt und seine Familie, sein Freundeskreis und seine Verleger ebenfalls dieses Pseudonym benutzen, bedeutet das nicht, dass sie Teil einer "breitflächigen Verschwörung" zur Verbergung seiner Identität sind. Und was bedeutet überhaupt „breitflächig"? Es gibt wenig Beweise dafür, dass die Leute mehr über Shakespeare wussten, als dass sein Name auf den Titelseiten der Werke stand.
Freilich ist die Behauptung, dass die Schauspieler Heminges und Condell die Widmung und den Brief an die Leser verfassten oder tatsächliche Herausgeber der Werke gewesen seien, bereits 1770 von George Steevens angefochten worden. Steevens gelangte zu dem Schluss, den heute von der Mehrzahl der Shakespeareforscher akzeptiert wird, dass der wahre Verfasser dieser Texte Ben Jonson ist. Würden Heminges und Condell und mit ihnen Ben Jonson aus irgendeinem guten Grund dabei geholfen haben, einen Mythos in die Welt zu setzen? Wahrscheinlich muss diese Frage bejaht werden. Wir wissen, dass die beiden Schauspieler ihre Rolle vorgetäuscht haben. Man kann nicht sicher sein, dass nicht noch mehr vorgetäuscht worden ist.

- Richard Whalen, ehemaliger Präsident der Shakespeare Oxford Society; Verfasser zahlreicher Artikel und Buchbesprechungen während der letzten zwei Jahrzehnte.

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