Frage 40

Wann setzten die Zweifel an Shakespeares Verfasserschaft ein?

[Lena Cowen Orlin, Professor für Englisch an der Georgetown University, antwortet für den SBT]

1623 sagte Leonard Digges voraus, dass Shakespeares Werke sein „Stratforder Monument" überleben würden. Elf Jahre später schrieb ein Reisender, dass er in Stratford das Monument zu Ehren des „berühmten Dichters" gesehen habe. Einige Jahrzehnte später kursierte das Gerücht, dass der Schriftsteller William Davenant Shakespeares unehelicher Sohn sei. Die Tatsache, dass Davenant in Oxford geboren wurde und Oxford ein Zwischenaufenthalt für Shakespeares häufige Reisen zwischen London und Stratford war, verleiht diesem Gerücht Glaubwürdigkeit. John Ward, Vikar in Stratford, zu einer Zeit, da Nachkommen Shakespeares noch lebten, erhielt die Auskunft, dass Shakespeare, einmal endgültig nach Stratford zurückgekehrt, immer noch zweimal im Jahr neue Stücke nach London schickte. Als Nicholas Rowe 1708 zum erstenmal eine Biographie Shakespeares schrieb, schickte er einen Schauspieler nach Stratford, um Nachforschungen über dessen Leben in den Stadt- und Pfarreiarchiven anzustellen. Mit anderen Worten: Jedermann verband den Autor Shakespeare mit der Stadt Stratford. Alle Fakten lagen klar zutage. Erst 250 Jahre später wurden die ersten Zweifel an seiner Verfasserschaft laut.

Erwiderung:

Versuchen wir zunächst, die Fakten richtig auf die Reihe zu bekommen:

1.
„Monument": Die Bezeichnung „Stratforder Monument" ist nicht richtig. Das in der ersten Folioausgabe benutzte Wort lautet „moniment". Angesichts der damals nicht normierten Rechtschreibung kann damit zwar „Monument" gemeint sein, aber „moniment" konnte auch noch etwas anderes bedeuten, nämlich eine Sammlung von Dokumenten.

2. Das „Gerücht" über Davenant ist eben nur das: ein Gerücht. Kein Dokument existiert, dass beweist, Shakspere hätte bei seinen häufigen Reisen zwischen Stratford und London in Oxford Zwischenstation gemacht

3. Vikar John Ward schrieb: „ Mr. Shakespeare was a natural wit, without any art at all; hee frequented the plays all his younger time, but in his elder days lived at Stratford, and supplied the stage with two plays every year, and for itt had an allowance so large, that hee spent at the rate of 1,000 li a-year, as I have heard." („Mr. Shakespeare war ein Naturtalent bar jeder Künstlichkeit; in seinen jüngeren Jahren hatte er häufig mit Theaterstücken zu tun, aber auf seine alten Tage lebte er in Stratford und lieferte für die Bühne jährlich zwei Stücke ab, wofür er eine so hohe Zuwendung erhielt, dass er im Jahr 1000 Pfund spenden konnte, wie ich gehört habe".) Also ging dem Mann „jede Künstlichkeit" ab; gesagt wird weiter, dass er viele Stücke nach seinem Rückzug nach Stratford schrieb.  Kann man das als Beweis für Mr. S h a k s p e r e  gelten lassen? Wie Ward selbst zugibt, hatte er diese Auskünfte von Hörensagen.

4. Gewiss, Rowe schrieb eine Biographie (1709 ist die richtige Jahresangabe) und nutzte dafür Informationen, die sein Freund, der Schauspieler Thomas Betterton, gesammelt hatte. Ist es nicht wichtig, dass Betterton schrieb, er habe den Besuch der Grammar School abgebrochen und habe die lateinische Sprache nicht beherrscht? Wenn das stimmt, wie kann er der Autor gewesen sein, dessen Kenntnis der griechischen und lateinischen Sprache unbestritten ist (eines der Merkmale von Shakespeares Sprache, über die sich die meisten Forscher einig sein dürften, zumal was die Sonette betrifft, ist Shakespeares müheloses semantisches Pendeln zwischen einem englischen Wort und der entsprechenden etymologischen Bedeutung des lateinischen Gegenstückes)? Weiter benutzte er italienische und französische Quellen, die zum Teil noch nicht in englischer Übersetzung existierten.

Lena Cowen Orlin schreibt, dass „jedermann den Autor  S h a k e s p e  r e  mit der Stadt Stratford verband", aber alle von ihr angeführten Beispiele stammen aus der Zeit nach dem Erscheinen der ersten Folioausgabe im Jahr 1623, in der diese Darstellung verbreitet wurde. Beweise für eine solche Verknüpfung in der Zeit davor gibt es nicht.

Orlins Behauptung ist auch in anderer Hinsicht unrichtig; die Zweifel an der Verfasserschaft begannen zu Lebzeiten 
S h a k e s p e  r e s, und zwar wurden sie von Literaten geäußert, denen man unterstellen kann, dass sie gut informiert waren. Die ersten Zweifel wurden von Robert Greene in Greene's Groatsworth of Wit (1592) geäußert (siehe unsere Antwort zu Frage 9),  gar noch bevor der Name überhaupt zum ersten Mal im Druck erschienen war. Und derartige Zweifel wurden weiterhin in der Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen des Namens in den Widmungen zu Venus and Adonis (1593) und The Rape of Lucrece (1594) laut.   

In The Scourge of Villainie ("Geißel der Gemeinheit"),  zum ersten Mal unter dem Pseudonym W. Kinsayder 1598 gedruckt, spricht John Marston wie folgt von einem nicht genannten Dichter:

"When late I heard it from sage Mutius' lips,
How ill, methought, such wanton jigging skips
Beseem'd his graver speech. "Far fly thy fame,
Most, most of me beloved! whose silent name
One letter bounds. Thy true judicial style
I ever honour, and, if my love beguile
Not much my hopes, then thy unvalu'd worth
Shall mount fair place, when Apes are turned forth."

            [Als ich neulich von den Lippen des weisen Mutius vernahm,
             wie  schlecht, denk an, solch liederlich hüpfende Tänzchen,
             Zu seinen ernsten Worten passten. „Weit fliege dein Ruhm,
             Von mir über allen, über allen geliebt! Dessen stiller Name,
             Ein einziger Buchstaben bindet. Deinen wahrhaft durchdachten Stil
            Werde immer ich ehren, und, wenn meine Liebe
             Meine Hoffnungen nicht täuscht, dann wird dein unschätzbarer Wert
             Hehre Orte erklimmen, wenn einmal Affen fort sein werden.]

Man könnte an Edmund Spenser denken, aber Spenser hat seinen Namen nicht verschwiegen. Der „weise Mutius" ist, wie es der Fantasiename „Mutius" und auch der Ausdruck „stiller Name" unmissverständlich vermitteln, ein Dichter, ein von Marston über alle anderen geschätzter Dichter. Marstons Lob würde auf William Shakespeare zutreffen, der nach der Veröffentlichung der beiden Epyllien Venus and Adonis (1593) und The Rape of Lucrece (1594) als das summa summarum englischer Dichtkunst galt. Doch Marston meint einen großen verborgenen Dichter mit einem „stillen Namen", „verschwiegenen Namen".

In The Scourge of Folly (1610), einer Sammlung von Epigrammen, widmet der Verfasser John Davies of Hereford ein Epigramm „Mr. Will Shake-speare" und bezeichnet ihn als „unseren englischen Terenz". Terenz war ein römischer Sklave, der Cicero zufolge angeblich als Strohmann für aristokratische Stückeschreiber fungierte, die ihre Namen geheimzuhalten wünschten, eine These, die der englische Humanist Rogar Ascham (The Schoolemaster, 1570)  übernimmt.

1624, im ersten Jahr nach der ersten Folioausgabe, erscheint die zweite Ausgabe von Thomas Vicars' Rhetorikhandbuch; Vicars führt einige herausragende englische Dichter an, darunter Geoffrey Chaucer und Shakespeares Zeitgenossen Edmund Spenser, Michael Drayton und George Wither, nicht jedoch Shakespeare! Im Jahr 1624 muss Vicars der Name Shakespeare doch bekannt gewesen sein. Er korrigiert seine Unterlassung in der dritten Ausgabe des Handbuches (1628) mit einem suggestiven Hinweis auf Shakespeare, aus dem hervorgeht, dass Vicars nur an einen Namen, nicht aber an eine bestimmte Person William Shakespeare denkt. „To these I believe should be added that famous poet who takes his name from 'Shaking' and 'Spear.' " [„Zu diesen ist, glaube ich, sollte der berühmte Dichter hinzugezählt werden, der seinen Namen von 'Shaking' und 'Spear.' ableitet."] (Schurink, Fred, "An unnoticed early reference to Shakespeare," Notes and Queries, March 2006, 72-74)

Hier sehen wir eine  Referenz auf Shakespeare, die impliziert, dass der Name ein Kunstname oder ein Pseudonym ist. Die logische Erkärung ist, dass Vicars wusste, dass die Zuweisung in der ersten Folioausgabe nicht stimmte, weshalb er 1624 Shakespeare auch nicht in die Reihe der namentlich genannten großen Dichter aufnahm.

Ein Exemplar der ersten Folioausgabe der Glasgower Universität enthält neben verschiedenen Namen der „wichtigsten Schauspieler in diesen Stücken" Glossen. Neben Shakespeares Namen liest man eine Glosse, die offenbar von einem Zeitgenossen stammt: „leass for making". Nachdem er im Oxford English Dictionary nachgeschlagen hatte, schrieb der Verfasser, der diese Entdeckung gemacht hat: „Although there is no specific entry for 'leass,' there are multiple meanings for 'lease' spelled various ways. As a noun or adjective, the word may be spelled 'leas', 'laes', 'lese', 'les', 'lees'. 'Iesse', 'less', ''leace', 'leis(s)', 'leas(s)e', 'leys', and 'lase'. [Note particularly the spelling 'leas(s)e'.]  What is important, of course, is the meaning. As an adjective, it means: 'untrue, false, lying', as a noun, 'untruth, falsehood, lying' (3).  [„Obwohl unter 'leass,' kein spezifischer Eintrag zu finden ist, findet sich ein solcher Eintrag für 'lease' in verschiedenen Schreibweisen. Als Substantiv oder Adjektiv findet man: 'leas', 'laes', 'lese', 'les', 'lees'. 'Iesse', 'less', ''leace', 'leis(s)', 'leas(s)e', 'leys' und 'lase'". {Beachte die Schreibweise 'leas(s)e'}. Wichtig ist natürlich die Bedeutung. Als Adjektiv bedeutet es: 'unwahr, falsch, gelogen', als Substantiv: 'Unwahrheit, Falschheit, Lüge (3).  "

Es war damals nicht unüblich, das Endungs-„e" wegzulassen.

Der Artikel folgert (aufgrund von Überlegungen, die hier nicht alle aufgeführt werden können), dass „wir in dieser Originalausgabe des 1623er Folios einen Beleg dafür haben, dass irgendein Zeitgenosse bestimmte Schauspieler kannte... und der Meinung war, dass die Identifizierung des Schauspielers William Shakespeare als Verfasser unwahr oder erlogen war". **

Und schließlich haben wir Shakespeares eigene Offenbarung in den Sonetten 72 und 81, in denen er schreibt, sein Name werde von der Nachwelt vergessen sein (siehe Anhang A, Schlüsselfrage 5).

* Donald Frederick Nelson, "Schurink's Discovery of a Century," Shakespeare Oxford Newsletter, Vol. 44, No. 1, Spring 2008, 10-11.
** Frank Davis, M.D. "'Leass for Making': Shakespeare Outed as a Liar?" Shakespeare Oxford Newsletter, Vol. 43, No. 2, Spring 2007, 3-5.

- Frank Davis, M.D., Ehemaliger Präsident der Shakespeare Oxford Society - Peter Dawkins, M.A., Leiter des Francis Bacon Research Trust; und Kurator des Shakespearean Authorship Trust; Autor, The Shakespeare Enigma (Polair Publishing)

Übersicht      zürück     weiter