Frage 44

 Welche Rolle spielte Delia Bacon in der Shakespeare-Verfasserschaftsdiskussion?

[Graham Holderness, Schriftsteller, Professor für Englisch an der University of Hertfordshire, und Autor von Nine Lives of William Shakespeare (Continuum, 2011), antwortet für den SBT.]

Die Shakespeare-Verrfasserschaftsfrage nimmt ihren wirklichen Anfang mit einer bemerkenswerten Forscherin aus Neuengland, nämlich mit Delia Bacon, die im 19. Jahrhundert zu dem Schluss kam, dass Shakespeares Biografie mit der die Werke durchwaltenden Philosophie unvereinbar sei. Die Stücke müssten deshalb von einer Gruppe gebildeter und weltmännischer Hofmänner geschrieben sein, zu denen u. a. Francis Bacon und Walter Raleigh gehörten, die hofften, den absoluten Monarchismus durch eine freiheitlich republikanische Staatsform zu ersetzen; da ihr Vorhaben fehl schlug, „emigrierten" sie in die Welt der Literatur und schrieben unter dem Decknamen Shakespeare. Bacon wandte erstaunlich moderne Methoden der literarischen Analyse an, vertrat die These, dass die Stücke in Zusammenarbeit geschrieben seien und ein radikal politisches Programm enthielten, lange bevor solche Thesen geläufig wurden. Leider zwang ihre intellektuelle Vereinsamung sie in eine „Monomanie" und führte den seelischen Zusammenbruch herbei, was ihren Gegnern der grausame Vorwurf ermöglichte, sie wäre eine Wahnsinnige. In jeder Hinsicht prägte ihr Wirken die Zukunft der Shakespeare-Verfasserschaftsfrage.

Erwiderung:

Wir müssen Graham Holderness dankbar sein für seinen fairen Überblick. Delia Bacon war eine äußerst bemerkenswerte Frau. Sie betrat die literarische Szene mit dem Gewinn eines vom Saturday Courier, einer Zeitung in Philadelphia, ausgeschriebenen Wettbewerb (Preis: $100), bei dem sie dem jungen Edgar Allan Poe den Rang ablief. In den literarischen Kreisen Neuenglands galt sie als brillante Historikerin. Zu ihren Freunden und Förderern gehörten Ralph Waldo Emerson, Thomas Carlyle und Nathaniel Hawthorne, die alle ihre Arbeit unterstützten. Die ergiebige Korrespondenz zwischen ihnen ist erhalten.

Ihr erster Artikel über Shakespeare erschien 1856 im Putnam's Magazine. Der Erfolg ermunterte sie 1857 zur Veröffentlichung von The Philosophy of the Plays of Shakespeare Unfolded. Die Reaktionen auf das Werk fielen sehr verschieden aus. Während manche sie tadelten, lobten andere sie, als erste ein Werk zu diesem Thema geschrieben zu haben. Das Werk enthält glänzende Analysen von King Lear, Julius Caesar und Coriolanus. Bacon war keine Wahnsinnige - nicht als sie ihre Theorie formulierte und ihr Buch schrieb. Aber physischer Stress und Unterernährung erschöpften sie, während sie auf der Suche nach Shakespeares Identität einsam in England herumreiste - in der damaligen Zeit ungewöhnlich für eine Frau. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und starb im Alter von 48 Jahren.

Bacon trat gegen einen quasi-religiösen Mythos an - ein Vorhaben, für das es wenige Präzedenzfälle oder intellektuelle und moralische Unterstützung gab. Sie zahlte dafür einen schrecklichen Preis. Vertreter der Orthodoxie, einschließlich des SBT, haben Bacons tragisches Ende als ominöses Zeichen an der Wand für Zweifler ausgeschlachtet, um Dissidenz im Keim zu ersticken und in breiten akademischen Kreisen einen strikten Konformismus zu erzwingen. Ein Nebeneffekt dieser Strategie ist, dass heute Nichtakademiker und Forscher aus anderen Disziplinen die Lücke schließen.

Im Jahr 2000 gab Elliott Baker eine gekürzte Fassung von Shakespeare's Philosophy Unfolded heraus, um die Gedanken dieser bemerkenswerten Frau einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

- Carole Sue Lipman, Präsidentin, Shakespeare Authorship Roundtable of Los Angeles

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