Frage 51

Existieren irgendwelche faktischen Einwände gegen die Zuschreibung von Shakespeares Werken an Christopher Marlowe?

[Charles Nicholl, Autor von Büchern über Marlowe (The Reckoning), Shakespeare (The Lodger) und andere Elisabethaner, antwortet für den SBT.]

Gegen die These, Marlowe hätte Shakespeares Stücke geschrieben, bestehen viele Einwände, aber ein Einwand ist überwältigend: Marlowe wurde 1593 ermordet, wie diversen Dokumenten, darunter ein Leichenschauer-Bericht, entnommen werden kann. Marlowe war folglich bereits tot, als der Großteil von Shakespeares Stücken geschrieben wurde.

Um diesen riesengroßen Stolperstein aus dem Weg zu räumen, sind verschlungene Erzählungen vorgebracht worden, wonach die vom Leichenbeschauer gesehene Leiche in Wirklichkeit die eines anderen gewesen wäre, während sich Marlowe auf den Kontinent geflüchtet hätte, wo er die restlichen zwanzig-und-noch-etwas Jahre seine falschen Backenbärte gepflegt und Stücke wie Hamlet geschrieben hätte.

Viele interessante Fragen können über Marlowes Verhältnis zu Shakespeare gestellt werden; die Frage, ob Marlowe Shakespeares Stücke geschrieben hat, gehört nicht dazu.

Erwiderung:

Charles Nicholls The Reckoning über die Ermordung Marlowes ist ein „Muss" für jeden, der an Marlowe interessiert ist, aber leider sind seine Spekulationen in der 1992er Ausgabe darüber, unter welchen Umständen Marlowe im Mai 1593 in Deptford Strand ermordet wurde, verfehlt, so dass er für die 2002er Ausgabe eine neue Erkärung ausarbeitete. Mindestens zehn Forscher haben seit Nicholls erster Fassung versucht, Marlowes Tod zu erklären. Nur zwei von ihnen nehmen den Leichenschauer-Bericht für bare Münze. Von den übrigen gibt jeder eine andere Antwort, aber alle sind sich einig darüber, dass der Bericht wahrscheinlich eine Sammlung von Lügen darstellt. Marlowianer argumentieren, dass sich das Lügengewebe auch auf den Leichnam erstrecken könnte, den die Juroren zu sehen bekamen. Sie unterstreichen, dass zum Zeitpunkt seines angeblichen Todes:

  • Marlowe, des Atheismus beschuldigt, Folter, Gerichtsverfahren und Hinrichtung zu erwarten hatte.
  • Die drei, die mit ihm an jenem Tag seiner Ermordung zusammen waren, standen alle im Dienst mächtiger Männer, die eher daran interessiert sein mussten, Marlowes Leben zu retten, statt ihn zu töten.
  • Deptford Strand war der einzige Ort in England, der nicht nur unmittelbar unter die Gerichtsbarkeit des Kronrats (Geheimrats) stand, sondern wo der eigene Leichenbeschauer die Untersuchung leiten würde und wo ein Ersatz-Leichnam herbeigeschafft werden könnte, falls dies erforderlich sein sollte.

Deshalb argumentieren die Marlowianer, dass Nicholl und andere die falsche Frage stellen. Statt zu fragen, weshalb Marlowe ermordet wurde (etwas, worüber zwischen Marlowes Biographen eine nahezu totale Uneinigkeit herrscht), sollten sie fragen, was eigentlich der Zweck des sich über den ganzen Tag hinziehenden Treffens zwischen Marlowe und den drei anderen war. Die Marlowianer argumentieren, dass die Erklärung, für die die Logik am meisten spricht, ist, dass sie sich an diesem bestimmten Tag an diesem bestimmten Ort trafen, um seinen Tod vorzutäuschen, und dass jegliche andere „Evidenz" von Leuten stammt, die offenbar glaubten, es hätte sich wirklich so zugetragen.

- Peter Farey, M.A., unabhängiger Forscher; 2007 Mitgewinner des Calvin & Rose G. Hoffman-Gedächtnispreises für „eine ausgezeichnete Veröffentlichung über Christoper Marlowe".

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