Shapiro-Tagebuch (30) Shapiro über Francis Meres (II)

Hat Shapiro Meres gelesen? Der Paragraph, auf den Shapiro verweist, ist die Nummer 24. Dort steht erwartungsgemäß Seneca, der klassische Bühnenautor, der den größten Einfluss auf die elisabethanische Tragödie ausübte. Von Terenz nicht die Spur. Shapiro glaubt offenbar, dass Terenz Tragödien verfasst hätte! (siehe Abschnit 29). Daneben verblasst dann fast die nächste Ungenauigkeit: Meres vergleicht nicht nur englischen mit römischen, sondern auch mit griechischen und italienischen Autoren.

All das ist in einer einfachen Sprache und einem unterhaltsamen Stil geschrieben. Kam es Shapiro möglicherweise nur darauf an? Darauf, den 'entertainer' abzugeben?

Und dann geht es im Absatz weiter:

"Niederschmetternd für diejenigen, die glauben möchten, der Graf von Oxford und Shakespeare wären ein und derselbe Autor, nennt Meres beide und unterscheidet zwischen ihnen, indem er sowohl 'Edward Earl of Oxford' und Shakespeare in die Liste der Komödienautoren einsschließt (wobei er Oxford aus der Liste der Tragödienautoren weglässt). Meres rechnet Shakespeare auch zu denen, 'die bei uns am leidenschaftlichsten die Irrungen und Wirrungen der Liebe bedauern und beklagen'.

Crushingly, for those who want to believe that the Earl of Oxford and Shakespeare were one and the same writer, Meres names both and distinguishes between them, including both 'Edward Earl of Oxford' and Shakespeare in his list of the best writers of comedy (while omitting Oxford from the list of leading tragedians). Meres also ranks Shakespeare among those who are 'the most passionate among us to bewail and bemoan the perplexities of love'."

Wenn man einige Dinge genauer überprüft, genauer als Shapiro, der nicht einmal immer genau gelesen hat, ist es aber genau das, was Meres Liste der Komödienautoren nahelegt: dass es sich beim Earl of Oxford und Shakespeare um ein und denselben Autor handelt.

Im ersten Beitrag zu Meres ist darauf hingewiesen worden, dass Meres nicht sein eigenes Urteil abgibt, sondern aus bestehenden Werken ZITIERT. Dazu werden drei Beispiele gegeben - siehe hier. (da es hier nur darauf ankommt zu zeigen, dass Meres fast wörtlich zitiert, werden die Texte nicht übersetzt).

WOHER NIMMT MERES DIE ZITATE UND NAMEN IN DER LINKEN SPALTE?

Aus der zu Meres' Zeit wohl verbreitesten und meistkonsultierten Enzyklopädie Officina des Ravisius Textor (Jean Tixier de Ravisi), wie Don Cameron Allen nachgewiesen hat ("The classical scholarship of Francies Meres" in PMLA, Vo. XLVIII, March 1933, Number 1, pp. 418-425). Auch Meres' Aussage über Ovids Seele, die Shapiro uns als Meres' originäre Schätzung von Shakespeare andrehen möchte, ist eine bloße Nachahmung der aus Textors Enzyklopädie entlehnten über die Seele des  Euphorbus, die in Pythagoras weiterlebt (Originaltext Textors nach Don C. Cameron, S.423: „Mutati in Varias Formas Secundum Metamorphosim Poetarum... Euphorbus in Pythagoram"; ebenso der Vergleich in Par. 25 mit Plautus: „... ut Epius Stolo dixerit Musas Plautino sermone fuisse locuturas, si Latine loqui voluissent"). Kurz: Wenn Meres nicht bei einem englischen Verfasser borgen kann, der sich zu einzelnen englischen Autoren bereits geäußert hat, ergibt sich sein Urteil fast immer aus dem Umstand, dass ein Satz bei Textor zu finden ist, den Meres dann für den englischen Autor nachahmt.

Meres' Verfahren ist denkbar einfach; hinzu kommt, dass Meres in Par. 36 selbst offenlegt, wie er verfahren ist. Der Paragraph vergleicht englische Schriftsteller, die Alexandriner schrieben (Meres nennt diese Versform „jambischen Hexameter"). Alexandriner kommen in der englischen Dichtung nicht oft vor. Meres weiß nur zwei anzugeben, wie er selber schreibt („Ich werde unter den Griechen nur zwei nennen.... und bei uns nur zwei... da ich in dieser Versart nicht mehr gesehen habe"). Folglich wählt er aus Textor auch nur zwei klassische Dichter aus: Archilochus Parius und Hipponax Ephesios (Textor gibt für die Antike sehr viel mehr Beispiele), zwei griechische Dichter. Shapiro spricht, wie gesehen, nur von Vergleichen mit lateinischen Dichtern, wahrscheinlich deshalb, weil er nur Meres' Paragraphen zu Shakespeare gelesen hat, findet aber dennoch Gelegenheit, den Komödiendichter Terenz mit dem Tragödiendichter Seneca zu verwechseln.

So verfährt Meres auch für die Tragödiendichter. Textor enthält weitaus mehr als die 14 von Meres angegebenen klassischen Tragödiendichter. Doch Meres konnte oder wollte nur 14 Engländer aufführen. Zwei waren ihm durch Art of English Poesie vorgegegeben: „Lord of Buckhurst & Maister Edward Ferrys". Meres fügt noch je 1 Doktor aus Cambridge und Oxford und 10 weitere hinzu, so dass die beiden Hälften symmetrisch sind. Meres versteht es, in irgendeiner Form eine Symmetrie herzustellen. Entweder stehen n griechische und n lateinische (oder italienische) n englischen gegenüber oder, wie hier bei den Tragödiendichtern insgesamt 14 griechische und lateinische Dichter gegenüber 14 englischen; ab und zu wird auch ein Autor mit mehr als einem Werk aufgeführt, um die Balance zu halten. Nur in Par. 27 sind nur 2 römische Autoren erwähnt, während 6 englische erwähnt sind, aber diese werden nicht eigentlich mit den römischen in Vergleich gebracht. Meres sagt lediglich über jeden einzelnen etwas Ähnliches aus, was Ovid und Horaz von ihrem eigenen Werk gesagt haben.

Dass Meres den Earl of Oxford unter den Komödiendichtern erwähnt, liegt nur daran, dass Art of English Poesie ihn zusammen mit „Maister Edwardes of her Maiesties Chappell" als diejenigen erwähnt, die das höchste Lob für Komödien und Interludien verdienen (S. 63), dass Meres Oxford nicht unter Tragödiendichtern einfach daran, dass ihn Art of English Poesie nicht als solchen aufführt, übrigens auch nicht unter den Dichtern, obwohl Oxford zugleich als der beste Hofdichter ausgezeichnet wird (S. 61). Aber dieses Werk wurde bereits Anfang der 1580er Jahre verfasst, was somit bedeuten kann, dass Oxford vor 1580 noch keine Tragödie geschrieben hatte.

Für die Komödiendichter verfährt Meres wie für die Tragödiendichter. Er holt sich aus Textor genauso viele klassische Dichter, wie er englische Pendants zur Verfügung hat. Textor enthält wiederum weitaus mehr Namen von Komödiendichtern als die 16, die Meres anführt. Doch warum nur 16 und nicht 17? Denn den 16 klassischen Autoren sind 17 englische Autoren gegenübergestellt und diesmal ist nicht auf irgendeine andere Weise der Asymmetrie abgeholfen. Hier könnte die Symmetrie nur über den Namen hergestellt werden, dann nämlich, wenn zwei Namen für ein und denselben Dichter stehen.

Wir sind uns dehalb sicher, dass dies der Schluss ist, der gezogen werden muss, weil es in Meres' „Comparative Discourse" noch drei weitere ähnliche Fälle gibt - siehe hier.

Nur in diesen 4 Fällen versucht Meres nicht, doch noch die Symmetrie zwischen den beiden Hälften wiederherzustellen. In zwei Fällen sind mehr Personen auf einer der beiden Seiten, aber es herrscht Symmetrie von Namen. Und der Überhang an Personen ist einmal auf der linken Seite, in Par. 7, zu finden, aber nach Namen ist Symmetrie gegeben, weil Vater und Sohn Strozzi den gleichen Namen haben; einmal befindet sich der Überhang an Personen auf der rechten Seite, in Par. 46, aber nach Namen herrscht Symmetrie, weil die englischen Seneca-Übersetzer als ein anonymes Kollektiv erwähnt sind.

In zwei anderen Fällen finden wir ein Überhang an Namen, aber nicht nach Personen. Einmal befindet sich der Überhang auf der linken Seite, in Par. 39 der Epigrammatiker, aber es ist Gleichheit von Personen gegeben, da der Name Davies für zwei Epigrammatiker steht. Ein Name steht für zwei Personen.

Schließlich in Par. 34 der Komödiendichter, wo sich der Überhang an Namen auf der rechten Seite befindet, wo Edward, Earl of Oxford, und Shakespeare erwähnt sind. Es herrscht aber doch auch hier Gleichheit von Personen, weil diesmal zwei Namen für eine Person stehen.

Demnach drückt Meres durch seine Anordnung genau das Gegenteil von dem aus, was Shapiro als ein „niederschmetterndes" Argument gegen Oxford hält.

Meres Arithmetik ist niederschmetternder als Shapiros Rhetorik.

© Robert Detobel 2010