Shapiro-Tagebuch (12) Von der Neigung, sich von Widersprüchen ablenken zu lassen

Logik und Empirie sind es nicht, sondern Shapiros großer Trumpf ist Causerie, wie der Eröffnungssatz seines vierten Kapitels „Shakespeare" plastisch-knapp vor Augen führt:

„Es ist eine Sache zu erklären, wie Behauptungen, dass andere die Stücke geschrieben hätten, auf unbegründeten Annahmen beruhen; eine andere Sache ist es zu zeigen, dass Shakespeare aus Stratford sie wirklich geschrieben hat."

„It's one thing to explain how claims that others wrote the plays rest on unfounded assumptions; it's another to show that Shakespeare of Stratford did write them."

Die „eine Sache":
Shapiro wird in den vorausgehenden Kapiteln nicht müde zu betonen, dass er sich partout nicht auf die Annahmen einlassen werde, von denen die Zweifler ausgegangen sind. Er wolle lediglich zeigen, welche psychische Prädisposition, losgelöst von sachlichen Annahmen, sie dazu gebracht hätten.

Er hält Wort: die „Unfundiertheit der Annahmen" hat ihn nicht beschäftigt.
Am Anfang des vierten Kapitels ist ihm das Kurzzeitgedächtnis abhanden gekommen.

Die „andre Sache":
Hier nun, wo es gilt, den Beweis zu erbringen, dass Shakespeare aus Stratford die Stücke schrieb, ist die Empirie gefragt. Shapiro reichert den empirischen Gehalt seiner Beweisführung an mehreren Stellen an, indem er imperial zur Tatsache erklärt, was als Tatsache nicht existiert.

Man könnte das auch so ausdrücken: Shapiro bringt dort, wo etwas nicht existiert, es durch Insistieren zum Existieren.

  • Er sieht einen Bindestrich, wo keiner ist (Tagebuch -5) ;
  • Er schreibt Shakespeare in Timon von Athen ein Maskenspiel gut, das nach seinem eigenen Bekenntnis zur Koautorschaftsthese Thomas Middleton zuzuschreiben wäre, denn dieser habe demnach als Verfasser der ganzen Szene I.2 zu gelten (und er ist es auch); das Maskenspiel reduziert sich außerdem praktisch auf eine Regieanweisung (Tagebuch - 9);
  • Er rechnet die Zahlen der zur Shakespeares Lebenszeiten zirkulierenden Quarto-Ausgaben der Stücke hoch, indem er die beiden langen Gedichte Venus und Adonis und Lucrezias Schändung einbezieht, von denen die allermeisten Oktav- nicht in Quartoformat erschienen, und legt dann noch eine rein autosuggestiv begründete Schippe drauf. (Siehe  „ZAHLEN UND ‚BEKANNTE GESICHTER')

Shapiros Argumente für die Verfasserschaft des Mannes aus Stratford erheben sich nicht sehr weit über diejenigen eines Irvin Matus (Shakespeare, in fact) oder eines Scott McCrea (The Case for Shakespeare - The End of the Authorship Debate), die so üppig gedeihen im ariden Klima eines höchst mangelhaften Verständnisses des höfischen Gesellschaftssystems, das Shapiro emphatisch beschwört, wenn er damit Pluspunkte zu sammeln erhofft. Es erweist sich bei ihm jedoch als nicht weniger heurig naiv wie bei den Opponenten, denen er selbst diesen Vorwurf macht. Zum Beispiel schreibt er auf Seite 255, Shakespeare hätte praktisch keine Kontrolle über die Veröffentlichung seiner Stücke gehabt, denn „- strange as it may sound today - he didn't own them".

Edmund K. Chambers oder Walter W. Greg, Shakespeareforscher der dritten vorhergehenden Generation hätten eine solch simplistische Behauptung nie gewagt - muss man vielleicht von der dritten nachfolgenden Forscher-Degeneration reden?

Was Chambers 1923 schreibt ist aufschlussreich (siehe hier).

Chambers schreibt ferner:

„Ob richtig oder nicht - ich glaube, es ist richtig - , es gab andere Bühnenautoren, die weit davon entfernt waren, Shakespeares nonchalante Haltung gegenüber dem literarischen Schicksal seiner Werke anzunehmen. Jonson war ein sorgfältiger Herausgeber. Marston, Middleton und Heywood entschuldigen sich wegen diverser Druckfehler, die, so behaupten sie, ohne ihr Wissen gedruckt wurden oder während sie anderweitig dringlich beschäftigt waren; und die Schlussfolgerung kann nicht anders lauten, als dass unter normalen Bedingungen die Verantwortung bei ihnen gelegen haben würde. Marston schreibt in der Tat ausdrücklich, dass er die zweite Ausgabe von The Fawn ‚durchgesehen'  hat, um die mit Druckfehlern behaftete erste Ausgabe aufzubessern." (Ebenda, S. 198). 

Wie wäre es dann, Professor Shapiro, mit einem Stückchen von der Zeitgeschichte, die Sie so wohlklingend einfordern?

Chambers schreibt für „nonchalant: „detachment", „Distanzierung". Sich von der eigenen künstlerischen Produktion zu distanzieren, ist eine Spielart der sprezzatura (etymologisch: „keinen Preis drauf setzen, keinen Wert drauflegen"), die Baldassare Castiglione in seinem Buch vom Hofmann dem Hofmann empfiehlt. Castigliones Wort galt in Europa für lange Zeit. Es lassen sich in England, Spanien, Frankreich, Deutschland genug Beispiele finden, dass Castigliones Rat von schriftstellernden Hofmännern befolgt wurde. Und wenn das nun, Hofmann zu sein, Shakespeare zu einer ähnlichen Haltung gegenüber seinem literarischen Werk verpflichtete wie in England Sir Philip Sidney (mit dem Shakespeare übrigens gelegentlich in einem Atemzug erwähnt wird; der literarische Gegenspieler Sidneys war nun aber doch der Earl of Oxford, nicht wahr?) oder Sir Fulke Greville? 

Edmund K. Chambers' Bemerkung über das von Shakespeare gezeigte „detachment" gegenüber dem literarischen Schicksal seiner Werke bedarf indes einer doppelten Korrektur. Erstens gilt dies nicht für die beiden Epyllien Venus und Adonis und Lucrezias Schändung. Zweitens gilt dies auch nicht für alle Bühnenstücke in der Zeit zwischen 1598 und 1604. Danach reißt Shakespeares Interesse an einer sorgfältigen Herausgabe seiner Bühnenstücke ab.

Er habe die Herausgabe seiner Stücke, schreiben die vermeintlichen Herausgeber der Folioausgabe John Hemmings und Henry Condell (oder ihr Ghostwriter) im Brief an die Leser im Vorwort zu ersten Folioausgabe der Bühnenstücke, nicht mehr überwachen können, weil der Tod ihn dieses Rechts beraubte.

Welche Prädisposition würde Shapiro dem Steller solcher Fragen diagnostizieren? Etwa eine krankhafte Veranlagung, sich auf Widersprüche einzulassen, weil sie ziemlich stinken? Denn also spricht James Shapiro: Nicht der Widerspruch ließ jemanden zum Zweifler werden, sondern seine abartige Begeisterung für den Stank.

Oder ist es vielleicht ein latenter Größenwahn, der darin bestehen könnte, ein  Ludwig von Wittgenstein werden zu wollen, der nach eigener Aussage, dort stehen zu bleiben pflegte, wo andere weiter gehen?

Doch um dort stehen zu bleiben, wo Shapiro lässig plaudernd weiter geht, muss einer sich beileibe keinen Wittgenstein wähnen.

© Robert Detobel 2010